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Wusterhausen/Dosse (epd). Jeder, der im „Schloss Bantikow“ aufgenommen wird, einem ehemaligen Gutshaus in Brandenburg, ist schwer traumatisiert, meist mehrfach. Es sind Kinder und Jugendliche wie Jana (Name geändert), die aus einer Pflegefamilie kam, in der sie nicht bleiben konnte. Sie war ein Jahr alt, als sie mit ihrer drogen- und alkoholabhängigen obdachlosen Mutter unter einer Berliner Brücke gefunden wurde.
Einige Kinder sprechen nicht, essen nicht oder nässen sich ein: „Sie haben schwere Krankheiten durch Drogenschädigung als Fötus, einen kaputten Darm“, sagt Guntram Winterstein, 57, Diplom-Sozialarbeiter und Geschäftsführer des Sozial-Werks Winterstein. Es ist Träger des 2019 eröffneten Kinder-Traum-Hauses Schloss Bantikow, wie es sich nennt: In einem Modellprojekt wird Kindern und Jugendlichen geholfen, die zu Hause, in anderen Heimen oder Pflegefamilien nicht bleiben können.
„Wir haben Kinder, die äußern sich bis zu einem Jahr lang nur durch Schlagen, Treten und Einnässen“, sagt er. Das auszuhalten, sei Grundlage der Therapie. Aber das Kind sei nicht „böse“, es wisse es nicht anders, es sei pro Tag 24 Stunden im Überlebensmodus nach körperlicher und seelischer Gewalt, sexuellem Missbrauch, Vernachlässigung. Es mangele an allem, vor allem an Liebe, Zärtlichkeit.
Das „Schloss“ liegt in einem 1,2 Hektar großen Park, begrenzt von einem Zaun und einem See. Läuft man hinter das Gebäude, sieht man den hauseigenen Steg mit Booten. Dazwischen klettern und toben Kinder, es gibt Wiesen und Spielbereiche, einen Fußball- und Basketballplatz: Raum und Schutz für 23 Kinder und Jugendliche in vier Gruppen. Jede Gruppe hat eine Küche, ein Spiel- und Wohnzimmer und mindestens zwei Bäder - ein für jedes Kind überschaubares Zuhause.
Hier arbeiten fast 50 Erzieherinnen und Erzieher, Trauma-Pädagoginnen und -Pädagogen, Fachleute aus Psychologie, Therapie, Krankenpflege und Hauswirtschaft, Hausmeister und eine Köchin. Der Personalschlüssel geht bis zu eins zu zwei, teils eins zu eins in der intensivpädagogischen Gruppe.
Deren Leiter, der Erzieher Thomas Gröger, 38, hat selbst vier Kinder. Einer seiner Schützlinge ist Ben (Name geändert). Vor drei Jahren musste er in Obhut genommen werden, seine Eltern waren stark drogenabhängig, wie Gröger erzählt. Er habe anfangs nur in seiner Welt gelebt, sei nicht ansprechbar gewesen. „Er wurde uns als nicht einschulbar übergeben. Nach einem halben Jahr ging er auf die Förderschule. Heute liest er sehr viel, gerade über Ritter und Dinosaurier, ist einer der besten Leser seiner Klasse.“
Ben ist am Tag des Reportagetermins konzentriert, wissbegierig. Zweieinhalb Stunden macht er aufmerksam mit, später sagt er dem Erzieher: „Das ist ein guter Tag!“
Nur mit dem Geld, das die staatlichen Stellen für die Inobhutnahme der Kinder zahlen, wäre eine solch intensive Förderung nicht möglich. Die Berliner Bödecker-Familienstiftung für Kinder hat das Haus zur Verfügung gestellt, den Umbau bezahlt und unterstützt langfristig den Träger. Das erst erlaubt auch die Umsetzung des besonderen Konzepts. Die Familie Winterstein, neben Guntram seine Frau Jana, 52, Gesamtleiterin der Einrichtungen, und Sohn Jakob, 26, stellvertretender Geschäftsführer, folgt nach eigenen Angaben im Kern einem Konzept, das von dem 2021 verstorbenen Psychoanalytiker und Pädagogen Yecheskiel Cohen stammt.
Als Kind aus Nazi-Deutschland geflohen, gründete Cohen in Israel das Jerusalem Hills Therapeutic Center und leitete es 40 Jahre. 70 Prozent der schwer Traumatisierten fanden hinterher ihren Platz in der Gesellschaft. Seine Hauptforderung: „Nicht das traumatisierte Kind hat sich uns anzupassen, sondern wir uns dem Kind.“
Cohens Konzept habe sehr viele Gemeinsamkeiten mit der Traumapädagogik, sagt Martin Kühn, 60, der das Konzept von „Schloss Bantikow“ kennt. Kühn ist Mitgründer und Leiter des Traumapädagogischen Instituts Norddeutschland (Train) in Worpswede. Er war auch 2008 Mitgründer der Bundesarbeitsgemeinschaft (heute: Fachverband) Traumapädagogik. „Jedes Verhalten eines Menschen macht aus seiner Perspektive einen Sinn. Es gibt kein sinnloses Verhalten. Es gibt keine Systemsprenger, nur ein gesprengtes System.“
„Systemsprenger“, so heißt ein Film der Regisseurin Nora Fingscheidt aus dem Jahr 2019, der den Weg eines traumatisierten Mädchens nachzeichnet, das immer wieder scheitert. Wenn man in dem Film „Systemsprenger“ genau hinsehe, zeige sich das Verhalten des Kindes jederzeit als absolut logisch, sagt Kühn. „Das zu verstehen - was nicht heißt, einverstanden zu sein - ist die Voraussetzung der Therapie.“ Wichtig sei ein sicherer Ort, nicht nur räumlich, die Therapie müsse im Alltag stattfinden, mit verlässlichen Regeln und Strukturen, klaren Ansagen. Und bei allem gleichzeitig mit Flexibilität und ständiger Hinterfragung.
Das, so Kühn, erfordere Zeit, viel und gut ausgebildetes Personal. Bei jungen Kindern bis zu sechs Jahren heiße es oft: Ein Heim habe den Nachteil des Schichtdienstes, also wechselnder Bezugspersonen. „In der Praxis sieht das anders aus“, ist die Meinung von Kühn. Pflegeeltern, die Alternative zum Heim, seien Laien und bekämen sehr wenig Unterstützung. „Mit schwer traumatisierten Kindern, auf die man keinen vorbereiten kann, sind sie in der Regel überfordert. Liebe reicht nicht.“
„Schloss Bantikow“ als Modellprojekt darf Minderjährige von 0 bis 17 Jahren aufnehmen. Guntram Winterstein berichtet: „Wir müssen werktäglich zwei bis fünf Anfragen von Jugendämtern aus ganz Deutschland ablehnen, die dringend ein Heim für traumatisierte Kinder suchen, darunter viele sehr junge.“ Normalerweise dürfen - bis auf Ausnahmen - Kinder im Kleinkind- und Kita-Alter nur in Pflegefamilien gegeben werden. Das Ergebnis laut Winterstein: „Kinder werden mehrfach entnommen, werden weiter traumatisiert. Wir haben hier Kinder mit bis zu fünf Stationen.“
Ben sei mittlerweile so gereift, erzählt Gröger, dass er demnächst in eine Regelgruppe umziehen könne. Er sei auf dem besten Wege, ein selbständiges Kind zu werden. Jana ist heute 17 Jahre alt, sechs Jahre lang war sie in Bantikow. Sie ist stolz darauf, jetzt in der Ausbildung zur Malerin zu sein und bald in eine eigene Wohnung ziehen zu können - und ihren persönlichen Traum zu verwirklichen.