

Prag, Kutna Hora (epd). Als die ersten Bewerbungen von jungen Lehrkräften auf ihren Tisch flatterten, wusste Andrea Melechova Ruthova, dass ihre Schule in Kutna Horá östlich von Prag auf einem guten Weg ist: „Sie haben mitgekriegt, dass bei uns etwas in Bewegung geraten ist, und wollten die Änderungen mitgestalten“, erzählt die tschechische Schuldirektorin über ihren persönlichen Aha-Moment vor einigen Jahren. Die Wandlung „von der Ghettoschule zum Vorzeigeprojekt“, wie tschechische Medien sie bezeichnen, wird zum Muster für weitere Schulen im Land: Eine private Initiative will die jahrzehntelang praktizierte Segregation insbesondere von Schülern aus der Roma-Minderheit durchbrechen.
Dass Tschechien Kinder aus der Roma-Minderheit diskriminiert, hat der europäische Menschenrechts-Gerichtshof schon vor vielen Jahren festgestellt - und jetzt im Dezember droht dem Land deshalb sogar eine Klage. Denn an der Praxis, sozial schwache Schüler aus bildungsfernen Haushalten in speziellen Schulen zusammenzufassen, hat sich bislang im Land wenig geändert.
Dahinter steckt eine Besonderheit des tschechischen Schulsystems: Das Bildungsministerium hat nur bedingt Einfluss auf die einzelnen Einrichtungen. Die stehen unter Trägerschaft von Gemeinden oder Städten, die sogar die Posten der Schulleitungen in Eigenregie besetzen können - und für die zuständige Regionalpolitik ist es oft am bequemsten, die Kinder quasi aufzuteilen.
„Wenn es in einer Stadt zum Beispiel vier Grundschulen gibt“, erklärt Ondrej Matejka von der Prager Stiftung „EduZmena“, die hinter dem Pilotprojekt steht, „wird eine davon zur Top-Schule ausgebaut, dann gibt es zwei normale Schulen und eine, die quasi als Restschule fungiert.“ Im tschechischen Schulsystem decken die Grundschulen die Jahrgangsstufen eins bis neun ab.
Die Schule von Andrea Melechova Ruthova, die jetzt im Land für Furore sorgt, liegt in der 20.000-Einwohner-Stadt Kutna Hora eine Stunde östlich von Prag. Sie residiert in einem altehrwürdigen Akademie-Gebäude aus Zeiten der Habsburger Monarchie mit langen Fluren und hohen Räumen. „Als ich im Jahr 2016 hier angefangen habe, stammten 30 Prozent Kinder aus der Roma-Minderheit und nochmal 30 Prozent Kinder hatten spezielle Betreuungsbedürfnisse“, erinnert sie sich: „Zu der Zeit wurde Eltern mit schwierigen Kindern sogar in Beratungsstellen gesagt: Schickt das Kind auf diese Schule, die kommen mit solchen Kindern klar! Dadurch ist der Anteil dieser Schüler immer weiter gestiegen.“
Weil die Situation in Kutna Horá archetypisch ist für viele andere Städte in Tschechien, wählte die Stiftung EduZmena - zu Deutsch etwa: „Bildungswandel“ - sie für ihr Pilotprojekt aus. Über mehrere Jahre hinweg begleitete sie sowohl Schulen als auch die Stadt als Träger. Um teure bauliche Änderungen oder die Anschaffung von digitalen Unterrichtshilfen geht es in dem Projekt nicht; im Mittelpunkt steht stattdessen die Organisations- und Unterrichtsentwicklung.
„Wir haben kein vorgefertigtes Modell, wie eine Schule aussehen soll“, sagt Projektleiter Ondrej Matejka: „Wir wollen bloß, dass die Schule sich entwickelt, dass sie plant, reflektiert, dass sie auf die Probleme und Bedürfnisse von Schülern und Eltern reagiert. Und dass die Lehrer sich weiterbilden und nicht so weitermachen, wie sie es immer schon gemacht haben.“ Es ist ein ergebnisoffener Ansatz, bei dem der Schule keine fertigen Lösungen übergestülpt werden. Zum Start gab es eine aufwendige Fortbildung für die gesamte Schulleitung, getragen von der Stiftung: Unter anderem ging es darin um Führungsmethoden und Change Management. Danach erarbeitete die Leitung mit dem Lehrerkollegium eine Vision für die Schule.
Gemeinsam veränderten sie die didaktischen Methoden, vom strengen Frontal-Unterricht hin zu interaktiven Formaten. Die Lehrkräfte, so beschreibt es die Direktorin, ließen die Zügel ein wenig lockerer, moderierten eher als dass sie vortrügen, und bezögen die Impulse der Schüler stärker ein. In jeder Klasse gibt es eine Entspannungs-Ecke mit dickem Teppichboden, und über allem steht das Ziel, dass sich die Schüler sicher und geborgen fühlen sollen - dafür ist unter anderem regelmäßig ein Team mit einem Sozialarbeiter, einer Sonderpädagogin und einer Psychologin an der Schule.
Alle diese Neuerungen hätten nach und nach Lehrkräfte angelockt, die Lust haben, etwas zu bewegen, sagt die Direktorin. Und: „Andere Kollegen wiederum, denen die Änderungen nicht behagen, haben sich lieber woanders hin versetzen lassen.“ Auch dadurch sei eine neue Dynamik in die Schule gekommen.
Und auch die Eltern horchten auf: Der neue, kooperative Unterrichtsstil machte die Schule auf einmal interessant für bildungsaffinere Elternhäuser. In der einst als „Ghettoschule“ verschrienen Schule hat sich der Anteil der Roma-Kinder mehr als halbiert. Und während die Anmeldungen früher oft nur für eine erste Klasse gereicht hätten, startete das aktuelle Schuljahr mit drei ersten Klassen - und Schülern, die aus dem ganzen Stadtgebiet kommen und sich bewusst für diese Schule entschieden haben.
„Das geht alles nur, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen“, sagt Projektleiter Matejka. Die Stiftung selbst habe schließlich keinerlei direkten Einfluss auf Schulträger und Schule: „Wir müssen viel Kraft und Energie in die Kommunikation investieren und viel erklären, worum es uns geht“, so ist sein Fazit. Die Ergebnisse, die das Team während der Pilot-Phase in Kutna Horá gesammelt hat, sollen jetzt auch anderswo in Tschechien nutzbar gemacht werden: Derzeit starten ähnliche Projekte in vier weiteren Gegenden des Landes. Der Erfolg von Kutna Horá, heißt es bei der Stiftung EduZmena, habe sich von selbst in Tschechien herumgesprochen. Es haben sich viel mehr Städte für die nächste Projektphase beworben als man aufnehmen konnte.