Dortmund (epd). Die Misere ist längst da, und Wege aus ihr heraus sind schwierig: Längst müssen Kitas wegen Personalmangels Öffnungszeiten reduzieren oder sogar tageweise die gesamte Einrichtung schließen. Zum Leidwesen der Eltern. Doch das müsse nicht sein, sagte Christiane Meiner-Teubner von der TU Dortmund dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Kitas hätten durchaus Möglichkeiten, mehr Personal zu aquirieren. Die Fragen stellte Markus Jantzer.
epd sozial: Nach jüngsten Berechnungen der Technischen Universität Dortmund werden in den Kindertagesstätten in Westdeutschland im Jahr 2030 mehr als 50.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. Werden also nicht mehr alle Kinder in den Kitas einen Platz bekommen?
Christiane Meiner-Teubner: Richtig. Trotz des seit mehr als zehn Jahren bestehenden Rechtsanspruchs wird nach wie vor nicht allen Kindern ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Platz in einer Kita oder einer Kindertagespflege zur Verfügung gestellt, obwohl ein solcher von ihren Eltern gewünscht wird. Das heißt: Bereits seit Jahren gibt es viele Kinder, die keinen Platz haben. Im Jahr 2023, dem aktuellsten Jahr, für das wir das derzeit berechnen können, fehlten bundesweit knapp 500.000 Plätze. Wird man die zusätzlichen Fachkräfte für die Kitas oder die Kindertagespflege nicht finden, werden auch weiterhin nicht alle Kinder diese Bildungsangebote nutzen können. Dies ist gerade vor dem Hintergrund umso problematischer, da vielfach gerade Familien mit niedrigem Bildungsstand, mit nichtdeutscher Familiensprache und armutsbetroffene Familien keinen Platz bekommen, obwohl sie einen solchen wünschen.
epd: Im Osten ist die Lage wohl entspannter ...
Meiner-Teubner: Für die ostdeutschen Flächenländer finden wir eine ganz andere Situation vor. Hier gehen wir bereits jetzt von konstanten beziehungsweise zurückgehenden Platz- und Personalbedarfen aus. Es gibt kaum noch Eltern, die keinen Platz erhalten - und die Zahl der Kita-Kinder wird bereits seit einigen Jahren immer kleiner. Diese zurückgehenden Platzbedarfe können gerade in dünnbesiedelten Regionen dazu führen, dass erste Kitas geschlossen werden, so dass Familien deutlich längere Wegstrecken bis zur nächsten Kita zurücklegen müssen als bislang.
epd: Wie werden sich die Probleme in den kommenden Jahren zuspitzen, wenn keine Besserung eintritt?
Meiner-Teubner: Neben dem Personalmangel, der zu immer längeren Vakanzzeiten offener Stellen führt, setzen die steigenden Krankheitsausfälle das System enorm unter Druck, weil diese Ausfälle derzeit nicht bei der Personalbemessung berücksichtigt sind. Konkret zeigen beispielsweise Krankenkassendaten für das Land Nordrhein-Westfalen, dass es allein zwischen 2021 und 2022 einen Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage von 23 auf 30 in der Berufsgruppe gab, die insbesondere in der Kindertagesbetreuung zu finden sind - und hierbei sind noch nicht einmal Kinderkrankentage berücksichtigt. Wie der letzte Fehlzeitenreport der AOK nahelegt, kam es zuletzt sogar noch zu einer weiteren Steigerung.
epd: Wie wirkt sich der steigende Krankenstand konkret die Betreuung aus?
Meiner-Teubner: Der führt dazu, dass Eltern kurzfristig gebeten werden, ihre Kinder nicht in die Kita zu bringen. Es werden temporär - teilweise aber auch schon dauerhaft - Öffnungszeiten reduziert, Gruppen geschlossen oder in Einzelfällen sogar tageweise die gesamte Kita. Derartige Meldungen erreichen die Eltern oft sehr kurzfristig - im schlechtesten Fall, wenn sie bereits vor der Kita stehen. Diese schwindende Planungssicherheit führt bei den Familien zu großen Herausforderungen für die Bewältigung des Familien- und Berufsalltags. Gleichzeitig gehen den Kindern viele Bildungsgelegenheiten verloren und ihre sozialen Kontakte werden eingeschränkt. Das ist gerade für Kinder problematisch, die besonders von den frühkindlichen Bildungsangeboten profitieren, weil sie im häuslichen Umfeld ein geringes Anregungsniveau vorfinden.
epd: Fachkräfte fehlen auch in den Jugendämtern.
Meiner-Teubner: Ja, bei den hilfebedürftigen Familien ist der Personalmangel in den Jugendämtern sowie bei den freien Trägern in mehrerlei Hinsicht angekommen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erleben eine Überlastungssituation aufgrund von zu wenig Personal in den Allgemeinen Sozialen Diensten und einer gleichzeitig zunehmenden Aufgabenlast. Selbst die Sicherstellung von Basisaufgaben im Kinderschutz kann unter diesen Umständen gefährdet sein. Der Fachkräftemangel bei freien Trägern, die Angebote im Bereich der Hilfen zur Erziehung sowie zur Unterbringung im Rahmen der Inobhutnahmen anbieten, führt immer wieder zu fehlenden Kapazitäten, sodass notwendige Unterbringungen von in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen nicht selten in einer Odyssee enden. Auf kommunaler Ebene steht also die Kinder- und Jugendhilfe mit ihrem Schutzauftrag vor immensen Herausforderungen.
epd: Welche Maßnahmen werden bislang ergriffen, um dem Personalmangel entgegenzuwirken?
Meiner-Teubner: Bereits seit ein paar Jahren beobachten wir, dass die Bundesländer insbesondere im Kita-Bereich Maßnahmen ergreifen, die mit einer Reduzierung der Fachlichkeit einhergehen. Konkret sind das zwei Strategien, die jeweils die Qualifikation des Personals betreffen. So werden Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildungen reduziert und die Ausbildungsdauer verkürzt. Und die Länder erweitern regelmäßig ihre Fachkräftekataloge. Das bedeutet: Sie lassen immer mehr Berufsgruppen als qualifizierte Fachkräfte für die Kinder- und Jugendhilfe zu. Doch wichtig ist, diese Zielgruppen sowohl beim Einstieg als auch in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe intensiv zu begleiten und zu unterstützen, etwa durch Einarbeitungsmodelle, Fort- und Weiterbildungen sowie Teamentwicklungsmaßnahmen. Darüber hinaus haben die Länder die Ausbildungsressourcen ausgeweitet und erfolgreich die Strategie verfolgt, junge Frauen nach einer Familienphase in ihren Beruf zurückzuholen. Hier sind allerdings die Möglichkeiten inzwischen weitgehend ausgeschöpft.
epd: Welche weiteren realistischen Möglichkeiten sehen Sie, die Personallücken zu schließen und einen Qualitätsabbau in der Betreuung zu verhindern?
Meiner-Teubner: Klar ist, dass nur ein Maßnahmenbündel die Personalnot in der Kinder- und Jugendhilfe reduzieren kann, weil viele Strategien mittlerweile ausgeschöpft sind. Etwa horizontale und vertikale Fachkarrieren für die Sozial- und Erziehungsberufe zu ermöglichen. Denn dies könnte dazu beitragen, zusätzliche junge Menschen für diese Berufe zu gewinnen, aber auch ausgebildetes Personal an den Träger und die Arbeitsfelder zu binden. Ein systematischer Ausbau von Funktionsstellen, wie für Praxisanleitung, Kita-Sozialarbeit oder Sprachförderung, in denen zusätzliches Wissen angewendet werden muss und die höher entlohnt werden können, schaffen Chancen der Personalgewinnung und -bindung. Darüber hinaus sollten sich die verantwortlichen Akteure fragen, welche Aufgaben in den Arbeitsfeldern anfallen und ob alle Tätigkeiten von pädagogischem Personal erfüllt werden müssen. Eine stärkere Einbindung von Verwaltungskräften oder hauswirtschaftlichem Personal für entsprechende Aufgaben bietet die Chance, zusätzliche Berufsgruppen in der Kinder- und Jugendhilfe an Stellen einzusetzen, für die sie qualifiziert sind, und schafft für das pädagogische Personal zeitliche Ressourcen, die sie für die Arbeit mit den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien nutzen können.
epd: Ab dem Schuljahr 2026/2027 haben Grundschulkinder einen Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung und Förderung in der Schule. Wie kann der Rechtsanspruch der Familien trotz des Personalmangels eingelöst werden?
Meiner-Teubner: Der Rechtsanspruch auf ein ganztägiges Angebot im Grundschulalter wird im Schuljahr 2026/27 zunächst nur für die Kinder der ersten Klasse in Kraft treten und in den Folgejahren kommt jeweils ein weiterer Jahrgang hinzu, sodass der volle Rechtsanspruch erst im Schuljahr 2029/30 in Kraft treten wird. Bereits jetzt gibt es ein umfangreiches ganztägiges Angebot in den Ländern und wir beobachten, dass es von Jahr zu Jahr ausgebaut wird. Dennoch ist klar, dass noch weitere Angebote geschaffen werden müssen, um allen Eltern auf Wunsch einen Platz zur Verfügung zu stellen. Das muss bis zum Schuljahr 2029/30 erfolgen. Aber: Insbesondere in vielen westdeutschen Flächenländern wird das schwierig werden, weil das System bislang bei weitem nicht bedarfsdeckend ausgebaut ist und oft nur Übermittagsangebote zur Verfügung gestellt werden, die den zeitlichen Umfang eines Ganztagsplatzes nicht decken.
epd: Was können Kitas, Grundschulen und Jugendämter, die nicht auf Unterstützung durch die Politik warten wollen, selbst tun?
Meiner-Teubner: Auch hier gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten, die genutzt werden sollten. Die Träger sind als Arbeitgeber immer auch diejenigen, die für das Personalmanagement in ihrer Organisation zuständig sind und damit Personalgewinnung, -bindung und -entwicklungsmaßnahmen verantworten. Wichtig ist eine gute Einarbeitung und Integration neuer Mitarbeitender, besonders der Quereinsteiger, die dann auch eine stabile Bindung zum Träger als auch zum Arbeitsfeld aufbauen. Des Weiteren ist es wichtig, dass die Träger den hohen Bedarf an Fort- und Weiterbildung unterstützen, zum Beispiel durch ausreichend zeitliche Ressourcen und die Übernahme von entstandenen Kosten. Für weitere Personalbindung sollte der Austausch mit den Mitarbeitenden erfolgen. Denn die Wünsche können sehr unterschiedlich sein - nicht für jede Fachkraft ist ein Jahresabo im Fitnessstudio oder ein ÖPNV-Ticket lukrativ. Und schließlich sind eine attraktive Gestaltung und intensive Begleitung von Praktikantinnen und Praktikanten zur Vermeidung eines „Praxisschocks“ nötig. So lassen sie sich dann vielleicht auch für Ausbildung in dem Berufsfeld gewinnen.