Frankfurt a. M. (epd). „Motherfucker“ ist im Jugendhaus Mosbach heute nicht mehr so oft zu hören wie noch vor wenigen Jahren. Als es Christine Günther zu viel wurde, „führten wir eine Schimpfwort-Kasse ein: Für jedes Schimpfwort, egal in welcher Sprache, musste man 50 Cent einwerfen“, erzählt sie. Nach sechs Monaten war die Kasse mit 70 Euro gefüllt. Christine Günther ist in der badischen Kreisstadt Mosbach für Offene Jugendarbeit zuständig.
Freitags ist das Jugendhaus in Mosbach bis 22 Uhr geöffnet. Dann trudeln bis zu 50 junge Leute zwischen 10 und 25 Jahren ein. Seit 34 Jahren ist Günther in der Jugendarbeit aktiv. Durch den jahrelangen, unmittelbaren Umgang mit Kindern und Jugendlichen ist sie mit der aktuellen Jugendkultur bestens vertraut. Auch mit der Jugendsprache. Sie beobachte schon sehr lange, dass sich Jugendliche immer schlechter ausdrückten, sagt sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Laut einer Mitteilung der Krankenkasse Barmer haben zunehmend mehr Kinder und Jugendliche sprachliche Defizite. Nach Daten des Barmer-Kinderatlas stieg von 2008 bis 2022 in jedem Jahr der Anteil der Jugendlichen mit ärztlich dokumentierten Sprachdefiziten. Waren es 2008 noch knapp 8,2 Prozent, sind es 2022 schon 13,6. Bei den Defiziten handele es sich um Schwierigkeiten mit der Wort- und Satzbildung sowie dem Verständnis von Gelesenem und Gesprochenem.
Sebastian Puglisi, Jugendtrainer eines Fußballvereins im unterfränkischen Lohr, macht ähnliche Beobachtungen. Als Sechsjähriger begann er, in dem Club zu kicken. Inzwischen ist er dort schon 33 Jahre aktiv. Puglisi nimmt wahr, dass die Jugendlichen einsilbiger geworden seien. Sehr oft erhalte er auf Fragen nur ein „Weiß nicht“, „Ja“ oder „Nein“. Er fürchtet, dass durch exzessives digitales Interagieren die direkte Kommunikation mit Menschen von Angesicht zu Angesicht ein Stück weit verloren geht. Auch werde in Familien seiner Fußballer weniger geredet als früher. „Gespräche finden oft nur noch zwischen Tür und Angel statt.“
Auch für Ann-Kathrin Gerst hat sich die Kommunikationsfähigkeit junger Leute verschlechtert. Die Familienrechtlerin engagiert sich ehrenamtlich beim Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) im baden-württembergischen Winterbach. Als „Wirrwarr“ erlebe sie oft die Kommunikation in den Jugendgruppen. „Es fehlt zunehmend an Klarheit“, stellt sie fest. Das habe Folgen für gemeinsames Handeln, etwa einen Gruppenabend vorzubereiten. Was früher von den Teenagern selbst gestaltet worden sei, müssten heute oft die Leitungsteams übernehmen. Gerst fordert Kommunikationstrainings in Grundschulen- und Debattier-Clubs in weiterführenden Schulen.
Christine Günther sieht die Sozialen Medien als Treiber eines Sprachverfalls. In den Netzwerken drückten Teenager ihre Gefühle durch Emojis und Schlagwörter aus, beobachtet Günther. „Dabei geht die Sprache kaputt“, sagt sie. Für viele ihrer Jugendlichen sei es nicht mehr selbstverständlich, ganze Sätze zu bilden.
Sarah Brommer, Linguistikprofessorin an der Uni Bremen, widerspricht diesem Eindruck. Es gebe einen Unterschied zwischen dem sogenannten textorientierten und dem interaktionsorientierten Schreiben. Ersteres sei das klassische, in der Schule gelernte Schreiben, letzteres die Kommunikation beispielsweise durch Emojis oder Kürzel. Dabei gehe es darum, Emotionen auszudrücken und im Dialog mit anderen zu sein. „Es gibt in den Studien keine Korrelation zwischen den Fähigkeiten zum text- und zum interaktionsorientierten Schreiben“, sagt sie. Soll heißen: Jugendliche beherrschen in der Regel beides. Sie sei noch auf keine Studie gestoßen, die belege, dass Mediennutzung schlecht für die sprachliche Kompetenz sei, auch weil sich deren Einfluss angesichts anderer, nicht ausschließbarer Faktoren kaum nachweisen lasse.
Leichte Sprache, eigentlich entwickelt für Menschen mit Leseschwäche, „hält nun auch bei uns Einzug“, berichtet Christine Günther. Gestaltet sie etwa einen Flyer, dann verwendet sie so wenige Wörter wie möglich: „Steht zu viel drauf, steigen unsere Jugendlichen aus.“ Das betreffe vor allem die Besucher von Jugendzentren. Hier verkehrten eher selten Gymnasiasten. Wer aufs Gymnasium geht, lerne nach wie vor, sich gut auszudrücken: „Ich würde mir wünschen, dass in allen Schulen Sprache und Sprechen wieder nähergebracht würden.“
Das sei in der Tat ein Punkt, bestätigt Brommer, liege aber nicht an der Schule, sondern am sozialen Hintergrund von Gymnasiasten. „Bildung und damit die Sprache hängt vom sozioökonomischen Status des Elternhauses ab“, sagt die Forscherin. Das ist auch durch vergleichende Studien belegt. Wenn sich die soziale Schere öffne, dann sei erwartbar, dass sich auch Sprachkompetenz zunehmend ungleich in der Gesellschaft verteile.
Aber in der Tat werde heute in der Schule heute weniger Wert auf das Pauken von Regeln gelegt, sagt Brommer. Denn heute gehe es mehr um Argumentationsfähigkeit. Tatsächlich belegt schon eine Studie aus den 1990er Jahren, dass Abiturarbeiten in den 1980er Jahren formal noch fehlerfreier, aber inhaltlich dürftiger gewesen sind als später. „Die Texte - und entsprechend würde ich das auf sprachliche Kompetenzen allgemein übertragen - haben sich also verändert, aber man kann nicht sagen, dass sie schlechter geworden sind“, erklärt Brommer.
Der österreichische Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier vertritt die Auffassung, dass der abnehmende Wortschatz bei Jugendlichen „zweifellos“ auf den medienkulturellen Wandel zurückzuführen sei: „Die Sprache wird einfach, sie reduziert sich auf Schlagworte und Sprachpartikel aus der Popkultur.“ Auch er sagt, dass Jugendliche es verlernten, ohne mediale Vermittlung zu kommunizieren, also „direkt und unmittelbar“. Medien als Sozialisationsinstanz hätten an Bedeutung gewonnen, während Politik, Schule, Vereine oder Religion verloren haben.
Das sei aber nicht nur schlecht, sagt Heinzlmaier. Es sei ja so, dass junge Leute heute mehr denn je kommunizierten, auch über Medien: „Sie kommunizieren nur eben anders.“ Ihre Fähigkeiten zur Bildkommunikation und -interpretation seien besser als die vorangegangener Generationen. Junge Leute könnten auch problemlos Informationen aus mehreren Kanälen gleichzeitig verarbeiten. Das sei schlicht eine Anpassung auf eine sich veränderte Medienwelt, in der diese Fähigkeiten gebraucht würden.
Es sei natürlich nachvollziehbar, dass die klassischen Bildungsvermittler wie Schulen oder Vereine vor allem den Verlust an Sprachkompetenz wahrnähmen, erklärt Heinzlmaier. „Deren Aufgabe ist ja nun mal die Vermittlung der klassischen Kompetenzen.“ Aber Fortschritt ohne Verlust sei nicht denkbar.
Auch Brommer sieht keinen Grund zum Alarmismus. Die Digitalisierung habe dafür gesorgt, dass Sprachwelten heute vielfältiger sind. Damit hätten sich die sprachlichen Anforderungen, denen Jugendliche begegnen müssen, stark verändert. „Denn sie leben heute in sehr unterschiedlichen Sprachwelten, und machen ihre Kommunikation notwendigerweise abhängig vom konkreten Kontext“, sagt sie. „Wenn ich mehr Zeit für den Erwerb von bestimmten Kompetenzen investiere, muss die Zeit für den Erwerb anderer Kompetenzen doch notwendigerweise abnehmen“, sagt sie. Sprache habe sich schon immer gewandelt, und das müsse sie auch tun, um zu funktionieren: „Sie muss sich nun mal den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen.“