

Frankfurt a. M. (epd). Nur eine Bewegung - und zack ist der Turm aus Bauklötzchen umgeschmissen. Der kleine Jakob (Name geändert) schaut verdutzt. Dann rennt der Dreijährige weg. Er wollte den Turm nicht umwerfen. „Er wollte eigentlich mit den anderen Kindern in Kontakt kommen“, sagt Ann-Kathrin Noori. Nur weiß Jakob nicht, wie das geht. Unter anderem deshalb ist er bei der Heilpädagogin in Behandlung: Noori bietet in Ochtrup im Münsterland Frühförderung an.
Frühförderung hilft Kindern, die in ihrer Entwicklung auffällig sind, die behindert oder von Behinderung bedroht sind. In interdisziplinären Frühförderstellen erhalten Kinder heilpädagogische Angebote, Ergotherapie, Logopädie oder Physiotherapie.
Jakob ist eines von 65 Kindern, die von Noori und ihren Kolleginnen in der heilpädagogischen Frühfördereinrichtung „Glühwürmchen“ behandelt werden. Einige Kinder sind erst seit wenigen Wochen auf der Welt. Andere stehen schon kurz vor dem Schuleintritt. Viele haben ähnliche Probleme wie Jakob: Sie scheinen sich nicht im Griff zu haben. Viele können sich nicht konzentrieren. Sie rennen zum Beispiel den ganzen Tag durch die Kita, weil sie von jedem noch so kleinen Reiz angestachelt werden.
Nach Angaben von Jens Vandré, dem Vorsitzenden der Bundesvereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung, steigt die Nachfrage nach Frühförderung hierzulande deutlich. In verschiedenen Regionen Deutschlands gebe es Wartezeiten auf Hilfen durch Frühförderung von bis zu einem Jahr. Dadurch drohe die Gefahr, dass sich Probleme und ihre Folgen bei den Kindern festsetzten. Zum Teil könnten sie dann nur durch aufwendige, langfristige Therapien gelöst werden.
Ein Grund für den steigenden Bedarf an Frühförderung sei die Personalnot in den Kitas. Sie mache es nahezu unmöglich, verhaltensauffällige Kinder gut aufzufangen. Laut den Frühförderstellen treten derzeit Autismus-Spektrum-Störungen sowie Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) vermehrt als Verdachtsfälle auf.
„Beides sind auch bei uns Top-Verdachtsdiagnosen“, sagt Noori. Ihr Team könne sich vor Anfragen kaum retten: „Wir sind an unserer Grenze angekommen.“ 15 Kinder stehen auf der Warteliste. In anderen Frühfördereinrichtungen in ihrer Nähe, sagt sie, sei die Lage ähnlich.
Für Oliver Tibussek ist die Situation „nicht mehr vertretbar“. Der Pädagoge leitet das Kölner Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung, die größte Frühfördereinrichtung in Nordrhein-Westfalen. An acht Kölner Standorten werden jedes Jahr rund 1.200 Kinder behandelt. Manche Kinder müssten ein Jahr auf den Beginn ihrer Behandlung warten.
Vor rund 25 Jahren, sagt Tibussek, sei die Nachfrage „exorbitant“ in die Höhe geschnellt. In jüngster Zeit sei sie erneut steil angestiegen. Denn außer Autismus oder ADHS gibt es noch weitere Ursachen für Auffälligkeiten bei der Entwicklung von Kindern. Die wachsende Zahl von Kindern mit sozialen oder emotionalen Problemen macht in Tibusseks Augen sichtbar, dass gesellschaftlich etwas nicht mehr stimmt. Viele Kinder, sagt er, erhielten nicht die Zuwendung, die für ein gesundes Großwerden nötig sei.
An der Hochschule im thüringischen Nordhausen befasst sich Armin Sohns wissenschaftlich mit der Thematik. Nach seinen Erkenntnissen sind vor allem Kinder aus armen Familien von Entwicklungsstörungen betroffen. Ihnen fehle oft in den ersten drei Lebensjahren, die für die hirnorganische Entwicklung entscheidend seien, das notwendige stimulierende Umfeld.
Dem Wissenschaftler gelang es, den Zugang zu Frühfördermaßnahmen mit dem vor einem Jahr mit dem „Deutschen Frühförderpreis“ ausgezeichneten Modellprojekt „Inklusive Frühförderung“ zu erleichtern. Dazu wurde im Landkreis Göttingen eine neue Struktur aufgebaut, um Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen. Das gelingt mit kostenfreien Angeboten wie etwa Babymassagen in Familienzentren.
Nach einem Gespräch mit den Eltern erstellen dann Experten in sogenannten „I-Teams“ einen Förder- und Behandlungsplan für die Kinder mit Entwicklungsverzögerungen. An diesen Teams nehmen, je nach Fallkonstellation, Erzieherinnen, Familienhelfer und Kinderärzte teil.
Der Vorteil ist: In dem Projekt muss die Familie kein kompliziertes Antragsverfahren durchlaufen. Die Frühförderung wird von einer Einrichtung der Lebenshilfe in Herzberg geleistet. Die Kosten variieren sehr stark, je nachdem, welche Art von Frühförderung ein Kind hält, wie intensiv die Frühförderung ist und über welchen Zeitraum sie sich erstreckt. Die Kosten werden vom Landkreis und den Krankenkassen übernommen.
Beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Niedersachsen, bei dem ein Arbeitskreis Frühförderung mit über 50 Einrichtungen angesiedelt ist, kommt das Göttinger Modell gut an. „Das ist eine tolle Sache, um die Frühförderung weiterzuentwickeln“, sagte Inklusionsreferentin Victoria Schwertmann dem Evangelischen Pressedienst (epd).