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Gesundheit

Psychologe über Kaufsucht: Zentral ist der Kontrollverlust




Renanto Poespodihardjo
epd-bild/UPK Basel
Renanto Poespodihardjo ist Experte für Verhaltenssüchte. Als leitender Psychologe im Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel behandelt er seit Jahren Menschen mit Kaufsucht. Der Experte erklärt, wie Menschen in einen Kaufrausch geraten und sich nur noch schwer von ihrer Sucht befreien können. Die Fragen stellte Stefanie Unbehauen.

epd sozial: Herr Poespodihardjo, wie lässt sich ein normales Konsumverhalten von einer Kaufsucht unterscheiden?

Renanto Poespodihardjo: Das ist gar nicht so einfach. Ein zentrales Symptom bei einer Sucht ist der Kontrollverlust. Das heißt, der Betroffene will aufhören, kann es aber nicht. Ein weiterer Faktor ist der Schaden, der aus der Sucht entsteht. Es liegt auf der Hand, dass die Kaufsucht eine sehr teure Sucht ist, die zu hohen Schulden führen kann. Ein weiteres Symptom ist die gedankliche Vereinnahmung. Das Kaufen nimmt einen großen Raum im Alltag Betroffener ein. Sie beschäftigen sich häufig den ganzen Tag damit, verbringen viel Zeit auf Onlineshops, vergleichen Preise und Rabatte. Ein weiteres Warnsignal ist die Kontinuität. Kaufsüchtige müssen immer etwas im digitalen Warenkorb haben, jeden Tag kommt ein neues Päckchen an.

epd: Mit welchen Folgen, abgesehen von den finanziellen, haben Betroffene zu kämpfen?

Poespodihardjo: Unter anderem mit Schlaflosigkeit, sozialem Rückzug oder gar Isolation sowie weniger Zeit für anderes. In manchen Fällen führt die Kaufsucht sogar zu Beschaffungskriminalität. In jedem Fall ist es eine große psychische Belastung. Das impulsive Kaufen wirkt wie eine Betäubung.

epd: Welche Auslöser halten Sie für ausschlaggebend?

Poespodihardjo: Oft spielen verschiedene Faktoren zusammen. Betroffene versuchen, negative Gefühle in positive umzuwandeln. Shopping kann sogar eine Art Rausch auslösen und von Selbstzweifeln und negativen Empfindungen ablenken. Das exzessive Kaufen dient der Bewältigung von Emotionen. Aber auch die Persönlichkeitsstruktur spielt eine Rolle. Impulsivität, also zuerst zu handeln und dann erst nachzudenken, ist eine Charaktereigenschaft, die eine Kaufsucht begünstigen kann. Wenn dieses Nachdenken zu spät kommt, dann fördert das einen Überkonsum.

epd: Welche Rolle spielt die Genetik? Ist eine Kaufsucht vererbbar?

Poespodihardjo: Die Genetik spielt nur eine minimale Rolle. Was wir aus der Forschung wissen, ist, dass psychische Erkrankungen im Vorfeld ein häufiger Auslöser sind. Dabei handelt es sich meist um Krankheiten, die die Seele belasten, wie Depressionen oder Angststörungen. Es kann aber auch mit Einsamkeit zusammenhängen. Auch Zwangserkrankungen wie krankhaftes Horten liegen nahe an diesem Erkrankungsbild.

epd: Was können Menschen tun, die denken, sie könnten an einer Kaufsucht leiden?

Poespodihardjo: Wichtig ist es, den Kreislauf zu durchbrechen. Sie sollten sich die Fragen stellen: Muss das denn sein? Benötige ich dieses Produkt wirklich? Ist es ein Bedarfskauf? Erfüllt das einen bestimmten Zweck? Das könnte die Impulsivität unterbrechen und dafür sorgen, dass man wieder rationalere Entscheidungen trifft. Man sollte sich bewusst machen: Wenn die Notwendigkeit des Kaufs nicht mehr ansatzweise existiert, sondern nur noch mehr und mehr gekauft wird, dann hat man ein Konsumverhalten, das schädigend ist.

epd: Wer ist am häufigsten betroffen?

Poespodihardjo: Alter und Geschlecht spielen mit Sicherheit eine Rolle. Es ist immer noch so, dass es mehr Frauen betrifft, wobei diese Entwicklung bereits rückläufig ist. Auch Männer können kaufsüchtig sein, konsumieren dann aber meist andere Güter als Frauen, wie beispielsweise Werkzeuge, Elektroartikel und Hobby-Gegenstände. Die meisten Geschäfte jedoch, von Einrichtung über Kosmetik bis hin zu Schmuck und Bekleidung, sind nun mal auf Frauen ausgerichtet. Die Produkte dort sind oft so gestaltet, dass sie die Vernunft unterdrücken. Ein Beispiel: Man betritt ein Möbelgeschäft mit der Absicht, einen Schrank zu kaufen, kommt aber mit Teelichtern, Dekoartikeln und Sofakissen wieder raus.

epd: Welchen Einfluss hat Werbung hierbei?

Poespodihardjo: Einen sehr großen. Kunden werden mit Deals, Rabatten und Aktionstagen wie Cyber Monday und Black Friday gelockt. Man hangelt sich von Rabattaktion zu Rabattaktion. Dabei spricht die Werbung häufig Gefühle an und sorgt dafür, dass man vernünftige Gedanken beiseiteschiebt. Werbung wird von der Gesellschaft akzeptiert, obwohl es nichts anderes ist als Manipulation.

epd: Welchen Einfluss hat Onlineshopping, das in den vergangenen Jahren ja immer mehr zugenommen hat?

Poespodihardjo: Im Bereich des internetbasierten Konsums sind durchaus Veränderungen erkennbar. Ein großer Anreiz ist hierbei die Schnäppchenjagd, also das Vergleichen von Preisen. Hierbei unterscheiden sich Männer und Frauen nicht sehr voneinander. Ich gehe davon aus, dass Onlineshopping langfristig zu noch mehr Kaufsüchtigen führen wird.

epd: Was empfehlen Sie Betroffenen?

Poespodihardjo: Kaufsüchtige sollten sich Hilfe suchen. Betroffene fühlen sich oft allein mit ihrer Sucht und versuchen aus Scham, sie zu vertuschen. Jenen, die schon länger an einer Kaufsucht leiden, rate ich zu einer Therapie. Ein Problem ist jedoch, dass es für Betroffene deutlich zu wenig Beratungsstellen und Hilfsangebote gibt.

epd: Woran liegt das?

Poespodihardjo: Kaufen ist etwas, das wir alle tun. Das unterscheidet die Kaufsucht beispielsweise von einer Drogenabhängigkeit. Viele können sich nicht vorstellen, dass etwas gesellschaftlich so Akzeptiertes wie Kaufen eine Sucht sein könnte. Ich halte es für ein Problem, dass wir exzessives Computerspielen und Casinogänge als Sucht anerkennen, aber die Kaufsucht nicht.