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Familie

Wenn erwachsene Kinder mit ihren Eltern brechen




Ende des Kontakts zu den Eltern (Themenfoto)
epd-bild/Heike Lyding
Brechen Kinder den Kontakt zu ihren Eltern ab, passiert dies aus Sicht der Eltern oft sehr plötzlich. Doch meistens hat der Kontaktabbruch eine lange Vorgeschichte. Ein Betroffener berichtet. Eine Therapeutin erklärt, wie eine Wiederannäherung gelingen kann.

Ulm, Radebeul (epd). Simon Stein (Name geändert) erinnert sich nicht gerne an seine Kindheit. „Zu meinem Vater hatte ich nie ein gutes Verhältnis. Er war eine ständige Bedrohung. Es gab sogar eine Phase in meinem Leben, da versteckte ich mich vor ihm, so sehr habe ich mich vor ihm gefürchtet“, sagt der 44-Jährige. Aufgrund der schwierigen Familienverhältnisse will Stein seine Geschichte erzählen, er will seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen. Dieser Text basiert allein auf seiner Sicht.

Auch zu seiner Mutter hatte der frühpensionierte Justizfachwirt aus Ulm nie ein enges Verhältnis, wie er berichtet. „Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich je in den Arm genommen hat.“ Was Stein besonders verletzt hat, war „das ständige Gefühl, nie gut genug zu sein“. Im nahen Umfeld seien die familiären Probleme unerkannt geblieben. „Ich wurde als verwöhnt wahrgenommen, meine Eltern hätten schließlich alles für mich getan.“ „Der Kontaktabbruch hat immer zwei Seiten, daher gibt es auch zwei Wahrheiten“, sagte die Psychotherapeutin Claudia Bechert-Möckel dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Zusammenbruch im Alter von 25 Jahren

Im Alter von sieben Jahren habe er zum ersten Mal den Wunsch geäußert, in ein Heim ziehen zu wollen. „Die Antwort meiner Eltern war: Dann geh doch! Sollen wir dir etwa noch beim Packen helfen?“ Die Vernachlässigung, die er erlebt habe, habe bei ihm Spuren hinterlassen. „2005 erlitt ich im Alter von 25 Jahren einen Zusammenbruch und musste in eine psychosomatische Klinik“, sagt Stein. Irgendwann habe er dann den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen.

Damit ist Stein nicht allein. Nach Schätzungen von Soziologen haben in Deutschland rund 100.000 erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, meint Claudia Bechert-Möckel. Die Psychotherapeutin aus dem sächsischen Radebeul beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit Beziehungsfragen, darunter auch Kontaktabbrüchen zwischen Eltern und Kindern. „Familiäre Entfremdung hat meist eine lange Vorgeschichte“, betont die Expertin.

Eltern oft „eiskalt erwischt“

Aus Sicht der Eltern komme ein Kontaktabbruch oft unvorbereitet. „Die meisten erwischt das eiskalt. Ich höre von Eltern oft, dass doch eigentlich alles in Ordnung gewesen sei und plötzlich Vorwürfe kamen, auf die dann ein Kontaktabbruch folgte“, sagt die 56-Jährige. Aus Sicht der Kinder sehe die Sache oft anders aus. „Da sind Themen, die bereits in der Kindheit anfangen. Meistens handelt es sich hierbei nicht ausschließlich um Missbrauch und Gewalt, sondern eher um das Gefühl, nicht genug geliebt zu sein, nicht gesehen zu werden und nicht so sein zu dürfen, wie man wirklich ist“, erklärt Bechert-Möckel. Eltern wiederum beteuern, dass sie stets alles für ihr Kind getan und es sehr geliebt hätten. „Eltern sind auch Menschen und machen Fehler.“

Menschen, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, hadern oft viele Jahre lang mit ihrer Entscheidung. „Bevor Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, ist meist schon sehr viel passiert. Sie kämpfen häufig mit sich selbst, haben Schuldgefühle“, stellt Bechert-Möckel klar. Der entscheidende Auslöser sei dann meist ein einschneidendes Lebensereignis, wie der Auszug in eine eigene Wohnung oder die Geburt der eigenen Kinder oder eine Psychotherapie.

„Wie eine Bescheinigung, ein schlechter Mensch zu sein“

Familiäre Kontaktabbrüche seien mit sehr viel Scham verbunden. „Eltern, deren erwachsene Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben, sind wie in einer Schockstarre.“ Es sei wie eine Bescheinigung, ein schlechter Mensch zu sein.

Bechert-Möckel versucht, die Betroffenen aus dieser Spirale zu befreien. „Es geht nicht um Schuld, sondern darum zu verstehen, dass das Kind eine völlig andere Ansicht und Wahrheit hat als man selbst. Wenn man das akzeptiert, kann man anfangen, sich für die Sichtweise des Kindes zu interessieren.“ Manchmal werde dann ein Kontakt wieder möglich.

Die Eltern von Simon Stein würden immer wieder den Kontakt zu ihm suchen, erzählt er. „Mein Vater meldete sich letztes Jahr bei mir, da er sich einer Not-OP unterziehen musste. Das kam überraschend. Entsprechend kämpfte ich, ob ich ihn im Krankenhaus besuchen sollte.“ Er entschied sich schließlich dazu, ihn zu besuchen. „Wir unterhielten uns gut. Aber ich kann nicht vergessen, was war.“ Stein spricht von seiner Sehnsucht nach einer heilen Familie. Bis heute sei die nicht gestillt worden.

Stefanie Unbehauen


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