sozial-Politik

Bundesregierung

Bericht: In der Pflege fehlen Milliarden




Station im Helios Klinikum Erfurt
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Von allen Seiten wird der Regierung vorgeworfen, die Lösung der Probleme in der Pflege weiter zu verschleppen. Der Regierungsbericht zur Finanzierung der Pflegeversicherung sei lediglich eine weitere Bestandsaufnahme, kritisieren Verbände. Tiefgreifende Reformen müssten endlich begonnen werden - nicht nur bei der Finanzierung.

Berlin (epd). Ohne Reformen steht die Pflegeversicherung vor großen Finanzproblemen. Das geht aus dem Regierungsbericht über eine zukunftssichere Finanzierung der Pflegeversicherung hervor, mit dem sich das Bundeskabinett am 3. Juli in Berlin befasst hat. In dem Bericht werden auch Reformvorschläge durchgerechnet, ohne dass sich die Ampel-Koalition auf Maßnahmen und Zeitpläne festlegt.

Das sorgt für breite Kritik bei Sozial- und Fachverbänden. Deren Unmut mündet in deutlichen Worten. AWO-Präsidentin Kathrin Sonnenholzner: „Uns droht offenbar, dass die längst überfällige Finanzreform der Pflegeversicherung erneut in die nächste Legislaturperiode verschoben wird, während die Lage sich rapide zuspitzt.“ Die Pflegekassen stünden kurz vor dem finanziellen Kollaps, pflegebedürftige Menschen wüssten angesichts der rasant steigenden Eigenanteile nicht mehr, wie sie sich ihre Pflege leisten sollen. Was muss denn noch passieren, damit eine Bundesregierung endlich handelt?"

Noch deutlicher wird der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa): „Die Bundesregierung diskutiert einen Bericht und tut anschließend nichts. Sie schaut zu, wie die Zahl der Pflegebedürftigen nach oben schnellt, während wir zum ersten Mal ein Wegbrechen der pflegerischen Versorgung erleben“, rügte Präsident Bernd Meurer.

Bericht überblickt Zeit bis 2060

Der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgelegte Bericht wurde von Experten, mehreren Bundesministerien und Vertretern der Bundesländer erstellt und befasst sich mit der Zeitspanne bis 2060. Die Finanzierungslücke bis 2060 beziffert der Bericht mit 0,5 bis 2,6 Beitragssatzpunkten, je nach Szenario. Sofern der heutige Umfang der Leistungen beibehalten und an die künftigen Preise angepasst würde, läge die Beitragssteigerung im Mittel bei 1,4 Beitragssatzpunkten. Das entspricht nach heutigen Werten einer Finanzlücke von 24 Milliarden Euro im Jahr, die durch die höheren Beiträge geschlossen werden müsste. Der Beitrag läge dann bei 4,6 Prozent des Bruttoeinkommens.

Von den Arbeitgebern bis hin zu den Sozialverbänden zeigten sich alle Beteiligten unzufrieden und drängten auf Sofortmaßnahmen. Die Versorgung von Millionen pflegebedürftiger Menschen sei bereits jetzt massiv gefährdet, erklärte die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), die Dachorganisation der sechs größten Wohlfahrtsverbände. „Die defizitäre Lage der sozialen Pflegeversicherung erfordert stabilisierende Sofortmaßnahmen, damit die am Rande der Zahlungsunfähigkeit befindliche Pflegeversicherung überhaupt noch handlungsfähig bleibt.“

Pochen auf Sofortmaßnahmen

Ebenso seien dringend Maßnahmen erforderlich, "die die wirtschaftliche Lage der Pflegeeinrichtungen und -dienste verbessern, damit es nicht zusätzlich zu Angebotseinschränkungen in der Pflege kommt. Die BAGFW forderte die Bundesregierung auf, kurzfristig dazu in einem ersten Schritt die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Bundeszuschüsse für die Pflegeversicherung zur Verfügung zu stellen, um die Zahlungsfähigkeit der Pflegeversicherung zu gewährleisten.

Die Diakonie Deutschland kritisierte, Problemanalysen gebe es genug. Vorstandsmitglied Maria Loheide erklärte, kurzfristig ließen sich Finanzlücken schließen, wenn die Rentenbeiträge von pflegenden Angehörigen und die 4,5 Milliarden Euro Vorleistung der Pflegeversicherung aus der Corona-Zeit aus Steuermitteln finanziert würden. Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, rief die Bundesregierung in den Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe vom 3. Juli dazu auf, Wohlhabende stärker zu belasten.

Defizit steigt 2025 auf 3,4 Milliarden Euro

Die Pflegeversicherung rechnet für dieses Jahr mit einem Minus von 1,5 Milliarden Euro, im kommenden Jahr mit einem Defizit von 3,4 Milliarden Euro. Die Vorstände der Techniker Krankenkasse und die AOK kritisierten, der Regierungsbericht enthalte keinen konkreten Reformvorschlag. AWO-Chefin Sonnenholzner: „Das Mindeste wäre es gewesen, die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Maßnahmen zur kurzfristigen Stabilisierung der Finanzsituation der Pflegeversicherung durch Steuerzuschüsse für versicherungsfremde Leistungen umzusetzen. Aber nicht einmal das gelingt.“

Arbeitgeberverbände aus der Gesamtwirtschaft und der Pflegebranche warfen der Bundesregierung vor, die Entscheidung über eine Finanzreform der Pflegeversicherung auf die nächste Legislaturperiode zu vertagen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssten sich deshalb auf weiter steigende Beiträge gefasst machen, erklärten die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, der Verband der Privaten Krankenversicherung und Pflege-Arbeitgeberverbände. Die Arbeitgeberseite setzt sich für eine ergänzende, private Vorsorge ein, über die die Menschen ihr Pflegerisiko besser absichern sollen.

VdK spricht sich für Bürgerversicherung für alle aus

Im Gegensatz dazu forderte der Sozialverband VdK eine Pflege-Bürgerversicherung, in die auch Beamte und Selbstständige einzahlen, um die Pflegeversicherung finanziell breiter aufzustellen. VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärte, drei Viertel der Bevölkerung unterstützten diese Forderung und verwies dazu auf eine aktuelle Umfrage im Auftrag des Verbandes: „77 Prozent stimmen für die Zusammenlegung von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung. In allen Altersgruppen liegt die Zustimmung bei mindestens 75 Prozent.“

Dagegen hieß es beim Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV), die im Regierungsbericht enthaltenen Vorschläge für eine ergänzende kapitalgedeckte Vorsorge gingen in die richtige Richtung. „Wie man es auch dreht und wendet: Es führt kein Weg daran vorbei, kapitalgedeckte Reserven zu bilden, um das umlagefinanzierte System zu stützen. Alles andere wäre nicht generationengerecht“, so PKV-Chef Thomas Brahm.

Ver.di: Solidarsystem muss Pflege sicherstellen

Ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler erklärte: „Die Pflegeversicherung steht vor dem Kollaps, die Zuzahlungen und Eigenbeiträge überfordern viele Tausend pflegebedürftige Menschen. Weiter abzuwarten, verbietet sich.“ Die Mehrheit der Bevölkerung wolle, dass die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung ausgebaut wird, die alle pflegebedingten Kosten abdecke. „Alle pflegebedürftigen Menschen müssen die notwendige Versorgung bekommen, auch wenn sie wenig Einkommen und kein Vermögen haben. Ein würdiges Leben im Alter ist ein Grundrecht, das im Solidarsystem garantiert werden muss“, forderte Bühler.

Pflegeleistungen werden aus Beitragseinnahmen, Eigenanteilen der Pflegebedürftigen und Zuschüssen der Bundesländer finanziert. Dem Regierungsbericht zufolge lagen die Beiträge voriges Jahr bei mehr als 58 Milliarden Euro, Länder und Kommunen zahlten weitere 6,6 Milliarden Euro. Die Eigenanteile aller Heimbewohner, die nur rund 20 Prozent der Pflegebedürftigen ausmachen, betrugen knapp 22 Milliarden Euro. Insgesamt lebten Ende 2023 rund 5,2 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland. Ihre Zahl steigt rasch, im vorigen Jahr um 360.000 Personen.

Bettina Markmeyer, Dirk Baas