

Mannheim (epd). Stefanie Paul ist Abteilungsleiterin Arbeit, Migration und Soziales. Sie sagt: „Die viele Bürokratie beeinträchtigt die Integration der Vietnamesinnen nicht. Aber das hat seinen Grund darin, dass wir als Caritas das abzupuffern versuchen.“ Die Integration gelinge gut, weil „wir versuchen, den Neuankömmlingen überall zu helfen, wo es Probleme gibt. Wir sehen uns da als große Familie, und da hilft man sich.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Es gibt bundesweit vermutlich Hunderte Initiativen, um Fachkräfte nicht nur für Pflege im Ausland anzuwerben. Wie wichtig ist dieses Instrument, um die Nachwuchsprobleme hier im Land zu lösen?
Stefanie Paul: Es ist nur ein Instrument von vielen. Die gezielte Anwerbung ist wichtig, aber sie kann nicht die Lösung sein, die fehlenden Fachkräfte für Deutschland zu finden. Wir können, das sage ich ganz klar, nicht mit Personen aus dem Ausland den Bedarf decken, den wir in der Pflege haben. Ich würde auch sagen, dass das gar nicht das Ziel sein sollte. Denn die Vielfalt unserer Bewohnerinnen und Bewohner soll und muss sich auch in den Pflegenden wiederspiegeln.
epd: Wie ist das Verhältnis von Migranten zu einheimischen Beschäftigten bei Ihnen?
Paul: Das kann ich gar nicht genau sagen. Ich würde aber schätzen, dass ungefähr die Hälfte unserer Mitarbeitenden in der Pflege migrantische Wurzeln haben. Das ist auch logisch, wenn in einer Stadt wie Mannheim die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger Vorfahren aus dem Ausland hat. Das sind aber Zuwanderer und ihre Nachkommen. Die Zahl der Personen, die extra für die Arbeit in der Pflege aus fremden Ländern zu uns zur Caritas gekommen sind, ist in den Einrichtungen immer noch relativ gering.
epd: Der Caritasverband Mannheim wirbt Fachkräfte für die Pflege in Vietnam an. Warum ist das ein Weg für Sie, den Sie auch ethisch für unbedenklich halten?
Paul: Zunächst mal sage ich ganz grundsätzlich: Wir dürfen nicht unsere Probleme lösen, indem wir andernorts Probleme schaffen. Das sollten wir als Menschen generell nicht tun, aber für uns als Caritasverband ist das ein absolutes No-Go. Für Vietnam ist zu wissen: Es gibt dort anders als bei uns in Teilen Europas deutlich mehr junge als alte Menschen. Und die Jugendarbeitslosigkeit ist relativ hoch. Viele junge Erwachsene haben dort trotz eines recht hohen Bildungsstandes keine Perspektiven. Sie suchen ihr Glück dann oft im Ausland, bei uns zum Beispiel oder auch in Japan, das ebenfalls Pflegekräfte sucht.
epd: Auch in Deutschland erstarkt der rechte Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind oft Themen in den Medien. Schadet das nicht dem Bemühen, Leute aus Vietnam nach Deutschland zu holen?
Paul: Nein, definitiv nicht. Wir waren ja mehrfach im Land, bevor wir unser Projekt gestartet haben. Dort ist Deutschland an sich recht bekannt, ja durchaus beliebt als Ausreiseland. Das mag auch mit Geschichte zusammenhängen. Denn die DDR hatte ja enge Beziehungen zu dem Land. Es gibt eine ganze Anzahl älterer Vietnamesen, die noch Deutsch sprechen.
epd: Kommen wir auf ihr Anwerbeprojekt zu sprechen. Das war ja gar keine Idee der Caritas. Wie kamen die Kontakte nach Vietnam zustande?
Paul: Wir haben uns immer wieder mal mit dem Thema befasst, haben staatliche Programme geprüft, auch mit Anwerbeagenturen Kontakt gesucht. Aber das hat alles für uns als Caritasverband als größtem Pflegeträger hier in der Stadt nicht wirklich gepasst. Dann hat uns die Wirtschaftsförderung der Stadt Mannheim angesprochen. Die hatten eine junge Frau aus Da Nang in Vietnam zu Gast, die eine Sprachschule betreibt und die Lokführer nach Deutschland vermittelt. Und die wollte sich auch in der Pflege engagieren und Fachkräfte nach Mannheim vermitteln.
epd: Wie ging es dann weiter?
Paul: Wir haben dann das Gespräch gesucht, hatten mehrere Video-Calls. Das war alles ganz nett, aber für uns war schnell klar, bevor wir da weitermachen, müssen wir uns vor Ort in Vietnam selbst ein Bild machen, um zu wissen, ob das funktionieren kann. Das geht nur über eigene Eindrücke, indem man die Menschen kennenlernt und Gespräche mit möglichen Pflegeinteressierten führt. Das haben wir gemacht, sind mit drei Kolleginnen für fünf Tage nach Vietnam geflogen. Alles hat sehr gut geklappt, und wir haben dann im Frühjahr 2020 einen ersten Lauf versucht. Acht Schülerinnen haben die Ausbildung bisher abgeschlossen, sechs davon sind auch nach der Ausbildung bei uns geblieben.
epd: Klingt nach einer Anwerbung in einem kommerziellen Modell ...
Paul: Nein. Das zu sagen, wäre falsch. Für die Vermittlung nach Deutschland wird von uns nichts bezahlt. Die Sprachschule nimmt nur Geld für ihre Kurse, das heißt, die Schülerinnen und Schüler, die dort als Voraussetzung das Niveau B2 erreichen müssen, zahlen Kursgebühren. Wir als Caritas übernehmen aber einen Teil davon, wenn sie bei uns in die Ausbildung gehen und noch einen zweiten Teil, wenn sie danach noch bei uns weiterarbeiten.
epd: Sie versuchen auch, junge Menschen mit Vorkenntnissen in der Pflege zu gewinnen. Was steckt dahinter?
Paul: Viele Interessenten haben bereits in Vietnam ein Pflegestudium absolviert. Doch das wird bei uns in Deutschland nur als einjährige Pflegehelferausbildung anerkannt. Das ist auch nachvollziehbar, denn es ist ein rein theoretisches Studium ohne Praxiseinsatz. Das müssten die jungen Leute dann hier bei uns nachholen, das kostet Zeit und Geld. Natürlich sind Vorkenntnisse aus dem Fach gut, doch wir haben dann damals bewusst entschieden, die Vietnamesinnen bei uns selbst in der Pflege auszubilden. Und sie dann natürlich auch in einem unserer zehn Pflegeheime oder im ambulanten Pflegedienst anzustellen.
epd: Warum der Weg über die Ausbildung?
Paul: Das hat viele Vorteile, vor allem für die Betroffenen. Es dauert auch nicht viel länger, zu einem anerkannten Abschluss zu kommen. Sie verdienen vom ersten Tag als Azubis Geld. Sie lernen das deutsche Pflegesystem von der Pike auf kennen. In Vietnam macht man in der Pflege nur Behandlungspflege. Grundpflege, wie sie in Deutschland selbstverständlich zum Alltag gehört, übernehmen dort fast immer die Angehörigen. Diesen Switch hier nur durch den formellen Anerkennungsprozess der Vorausbildung zu schaffen, ist relativ schwierig.
epd: Das Sprachniveau B2 ist die Voraussetzung für die Vermittlung. Das reicht doch aber wohl kaum, um auch fachlich im Alltag kommunizieren zu können?
Paul: B2 schreibt die Ausbildungsverordnung vor. Der dokumentiert „ausreichende Sprachkenntnisse“. Ich meine, das ist schon ein solides Sprachniveau. Aber wir sehen auch, dass die jungen Leute in den ersten Wochen in der Schule nur Bahnhof verstehen. Aber das gibt sich schnell, sie sind sehr intelligent und wollen vorankommen. Ihr Leseverständnis ist super. Wenn man also grundlegende Dinge vermitteln will, die sie unbedingt verstehen müssen, ist es ratsam, das schriftlich zu machen. Außerdem sind sie ja in der Praxis auch auf das Deutschsprechen angewiesen. Da machen sie wirklich schnell Fortschritte, das zeigen auch die Klausurergebnisse. Nach gut einem halben Jahr sprechen sie fließend Deutsch.
epd: Wie viele Frauen haben Sie bereits ausgebildet, oder sind auch junge Männer darunter?
Paul: In den vier Jahren, seit das Programm läuft, haben wir rund 30 Personen ausgebildet. Vier oder fünf junge Männer haben wir auch dabeigehabt. Das ist eher die Ausnahme. Wir haben bislang noch niemanden, der die Ausbildung einfach grundlos geschmissen hat. Denn das hat ja die Folge, dass die Betroffenen dann wieder ausreisen müssten. Wir hatten eine freiwillige Rückkehr, weil der Vater der Frau schwer erkrankt ist. Eine Frau kam bei uns als kirchlichem Träger nicht mit der Ausbildung zurecht. Und eine Frau hat die Ausbildung gewechselt, aus persönlichen Gründen, die ist ins Hotelfach gegangen, was dann auch im Einvernehmen mit der Ausländerbehörde geregelt wurde.
epd: Stichwort Behörden. Da haben Sie ja auch so manchen Akt der Bürokratie zu erdulden. Was erlebt man da so in der Praxis?
Paul: Viele Prozesse in der Verwaltung dauern einfach ewig lange. Und sie sind auch nicht logisch, nicht nachvollziehbar. Zudem ändern sich alle naselang die Vorgaben, die Vorschriften. Das bindet Ressourcen, kostet Kraft und ist nervig. Ein Beispiel für unnötigen Aufwand: Wir müssen seit Jahren für jede Schülerin einen Antrag bei der Arbeitsagentur stellen, damit geprüft werden kann, ob unsere Ausbildungsbedingungen den vergebenen Standards entsprechen. Vollkommen unverständlich, denn wir haben einen Tarifvertrag, der gilt bundesweit. Da muss es eine Möglichkeit geben, dass wir uns akkreditieren können. Oder dass man eine solche Prüfung für den Ausbildungsbetrieb nur einmal im Jahr macht.
epd: Das scheint die Integration der jungen Leute nicht gerade zu beflügeln ...
Paul: Die viele Bürokratie beeinträchtigt die Integration nicht. Aber das hat seinen Grund darin, dass wir als Caritas das abzupuffern versuchen. Das beeinträchtigt manchmal eher meine psychische Gesundheit, aber die Hürden in den Ämtern wecken eher meinen sportlichen Ehrgeiz. Wir versuchen, den Neuankömmlingen überall zu helfen, wo es Probleme gibt. Wir sehen uns da als große Familie, und da hilft man sich. Die Wohnungssuche ist übrigens kein Problem, denn sie wohnen nach der Einreise ein Jahr bei uns in kleinen Wohngruppen, wir haben dazu verschiedene Ausbildungs-WGs eröffnet, wo sie eine kleine Miete bezahlen.
epd: Sie betreiben viel Aufwand, um die Nachwuchskräfte nicht nur zu integrieren, sondern auch zu binden. Wer bietet da intern Hilfen an?
Paul: Ich habe ja schon gesagt, dass wir im Familienverbund unterwegs sind. Ich bin eigentlich für alles ansprechbar, wenn etwas verrutscht. Etwa bei der Suche nach Ärzten. Oder bei der Suche nach speziellen Einkaufsmöglichkeiten. Das machen wir ganz fix über Messengerdienste. Zwei Kollegen geben wöchentlich Nachhilfe, wo es nötig ist. Im ersten Jahr müssen die Schüler und Schülerinnen teilnehmen, im zweiten Ausbildungsjahr ist das Angebot freiwillig. Auch die Umwandlung des Visums in eine Aufenthaltserlaubnis regeln wir über unsere Migrationsberatung. Man muss das alles mit Begeisterung machen, denn wenn man jede anfallende Arbeitsstunde aufschreiben würde, dann hätten wir ein finanzielles Problem. Es ist prinzipiell Aufgabe von uns, Pflege so zu gestalten, dass man gerne in diesem Beruf arbeitet. Und wir müssen alle mehr Öffentlichkeitsarbeit machen, denn die Pflege ist besser als ihr Ruf.