Hannover (epd). „Inzwischen bin ich ja zum Glück Profi“, sagt Jessica Rietz und ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Die 38-Jährige sitzt auf einer Bank hinter der orthopädischen Klinik Annastift in Hannover-Kleefeld und schaut Ihren Kindern beim Spielen zu. Mit ihrem Mann Christian toben der neunjährige Jeremey, der sechsjährige Jannik und die dreijährigen Zwillinge Justin und Jannes über die grüne Wiese. Sie schaukeln, wippen, pusten Seifenblasen.
Nichts in dieser Frühlingsidylle deutet darauf hin, dass Familie Rietz aus Neustadt am Rübenberge besondere Herausforderungen zu meistern hat, dass hier jemand „Profi“ sein muss. Vielmehr sieht es so aus, als laufe das Familienleben reibungslos, wie von selbst. Doch das ist nicht der Fall.
Drei der vier Kinder sind behindert. Jeremey, Jannik und Justin haben einen seltenen Gendefekt. So selten, dass es nicht mal einen Namen für ihn gibt, geschweige denn Medikamente oder Therapien. Die Kinder leiden unter Muskelschwäche und Gelenksteifigkeit. Sie können nicht richtig laufen, haben oft Schmerzen. Nur Jannes, einer der Zwillinge, ist gesund.
„Das Einzige, was wir machen können, ist Krankengymnastik, um ihre Muskulatur zu stärken“, sagt Jessica Rietz. Sohn Jannik hört aufmerksam zu - und schaut traurig. Gerne würde er im Kindergarten mit den anderen Fußball spielen. Doch er ist zu langsam. Seine Mutter nimmt ihn in den Arm. „Dafür gehst du zum heilpädagogischen Reiten“, sagt sie tröstend.
Zum „Profi“ im Umgang mit den Behinderungen ihrer Kinder, mit Alltagshürden und Frustrationserlebnissen hat das Ehepaar Rietz Katrin Sommerfeld gemacht. Die Sozialpädagogin arbeitet bei der Elternberatungsstelle „Menschenskind“ im Annastift des hannoverschen Krankenhauskonzerns Diakovere und kennt die Herausforderungen von Familien mit behinderten Kindern.
Da seien auf der einen Seite Traurigkeit, Verzweiflung, Überforderung. „Wir halten die Trauer gemeinsam mit den Eltern aus, stabilisieren die Familien, gehen mit zu wichtigen Arztterminen“, sagt Sommerfeld. Andererseits gelte es, etliche praktische Fragen zu beantworten, sich im Bürokratie-Wirrwarr zurechtzufinden: Wie beantrage ich einen Pflegegrad? Wie einen Schwerbehindertenausweis? Was gibt es für finanzielle Hilfen? Was tun, wenn Krankenkassen die Kostenübernahme medizinischer Hilfsmittel ablehnen?
„Menschenskind“ wurde vor zehn Jahren gegründet. Träger sind Stadt und Region Hannover sowie die Diakonie Niedersachsen. 426 Familien wurden seitdem beraten, meistens Zuhause in ihren eigenen vier Wänden. „Mütter und Väter behinderter Kindern haben schon genug Termine“, sagt Sommerfeld.
Auslöser für die Gründung der Beratungsstelle sei die Erkenntnis gewesen, dass es „eine Lücke im Unterstützungssystem“ gegeben habe, sagt Sommerfeld. Gerade im Kleinkindalter zwischen Geburt und dem Alter von drei Jahren fehlten spezialisierte Einrichtungen, die Eltern begleiten. „So etwas wie 'Menschenskind' gibt es unserem Wissen nach bundesweit nicht.“
Mit zwei Kolleginnen, einer Ergotherapeutin und einer Heilpädagogin, ist Sommerfeld Ansprechpartnerin für Familien mit behinderten Kindern bis zum Alter von drei Jahren. Zugleich steht sie Schwangeren mit Rat und Tat zur Seite, deren Kind voraussichtlich behindert auf die Welt kommen wird, und die nun nicht wissen, was sie machen sollen. „Wir beraten ergebnisoffen“, betont Sommerfeld. Es gehe nicht darum, Ratschläge zu erteilen, sondern umfassend über Unterstützungsangebote zu informieren, damit Frauen ihre Entscheidung für eine Fortsetzung oder einen Abbruch ihrer Schwangerschaft fundiert treffen können.
Jessica Rietz sagt, für sie wäre eine Abtreibung nie infrage gekommen. Dass es sich um einen familiär bedingten Gendefekt handelt, hat sie erst spät erfahren, lange war die Medizin ratlos. Als sich die Familie testen ließ, stellte sich heraus, dass auch die Oma der Kinder, Jessica Rietz' Mutter, den vererbbaren Gendefekt hat. „Das aber wussten wir nicht, denn meine Mutter hat keine Symptome.“
Als Rietz mit ihren Zwillingen Justin und Jannes schwanger wurde, zeigte sich, dass sich ein Kind normal entwickelt und das andere kleiner, leichter, schwächer war. Als Option habe damals im Raum gestanden, den schwächere Zwilling abzutreiben, um dem anderen bessere Chancen einzuräumen, sagt Jessica Rietz.
Sie sieht aus, also könne sie noch immer nicht glauben, dass sie vor dieser Wahl gestanden hat. Ihr Blick folgt Justin und Jannes, die sich auf dem Rasen kabbeln. „Nein“, sagt sie kopfschüttelnd, „diese Option kam für mich wirklich nie infrage.“
Rietz ist Sommerfeld dankbar für die kostenlose Beratung und Unterstützung von „Menschenskind“. „Was immer ich gefragt habe, was immer auch anlag, sie war da“, sagt sie. „Ohne die Begleitung hätten wir vieles nicht gewusst.“ Zum Beispiel von der Möglichkeit, einen bezuschussten Familienurlaub zu machen. „Wir waren vor zwei Jahren für eine Woche auf Schloss Dankern im Emsland - es war total schön.“
Und wenn sie einen Wunsch für ihre Kinder freihätte? Jessica Rietz muss nicht lang überlegen. „Ich hoffe, dass der Gendefekt erforscht wird und die Kinder selbstständig leben können.“ Aber auch im Alltag gebe es noch Luft nach oben. Schnellere Arzttermine stehen bei Familie Rietz auf der Wunschliste ganz oben und dass die Kasse Jeremeys Rollator bezahlt. „Außerdem wäre es schön, wenn manche Menschen den Kindern wertschätzender begegnen würden.“