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Bündnis: Kinderrechte sind universell und gelten für alle




Heim für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge in Berlin (Archivbild)
epd-bild/Rolf Zöllner
Ein Bündnis mehrerer großer Sozial- und Kinderschutzverbände mahnt in einem "Zwischenruf" an, dass die Rechte minderjähriger Geflüchteter in Deutschland nicht gewahrt werden. "Kinderrechte sind universell und gelten für Alle - auch für junge Geflüchtete!", heißt es in dem Aufruf vom 13. Mai, den epd sozial im Wortlaut dokumentiert.

Die UnterzeichnerInnen sehen mit großer Sorge, dass die Rechte junger Geflüchteter in Deutschland beschnitten werden und Hilfebedarfe von öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe zum Teil pauschal geringer eingeschätzt werden. Hintergrund sind Erlasse und Empfehlungen verschiedener Bundesländer, die eine Qualitätsabweichung für etwa 16-jährige männliche unbegleitete Geflüchtete ermöglichen, die aber mit dem geltendem Recht - so ein aktueller umfassender Fachbeitrag - nicht im Einklang stehen.

Die UnterzeichnerInnen sehen das Primat der Kinder- und Jugendhilfe - die Vorrangstellung der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe - und die Rechtsstaatlichkeit verletzt und fordern eine Rückkehr zu diesen Prämissen einer demokratisch verfassten Jugendhilfe. Sie fordern zudem die Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen rechtebasiert auszugestalten.

Unveräußerliches Recht auf Förderung der Entwicklung

Jeder junge Mensch hat das unveräußerliche Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1 SGB VIII). Dies gilt auch uneingeschränkt für junge Geflüchtete, gleichwohl ob sie begleitet oder unbegleitet nach Deutschland eingereist sind. Das ausdifferenzierte Kinder- und Jugendhilfesystem steht somit allen jungen Menschen bis mindestens zum 21. Lebensjahr uneingeschränkt zur Verfügung. Zahlreiche Bundesländer haben seit Herbst 2023 auf der exekutiven Seite Erlasse und Empfehlungen veröffentlicht, die eine grundsätzliche Abweichung von Qualitätsstandards der Kinder- und Jugendhilfe bei Hilfen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete (umF) ermöglichen. Die Bundesländer begründen dies mit der gestiegenen Anzahl von jungen Geflüchteten und den fehlenden, zuvor abgebauten Strukturen für Geflüchtete sowie dem strukturellen Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Rechte von Geflüchteten werden so radikal von der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe beschnitten.

Die Abweichung bei Qualitätsstandards bei Hilfen für junge Geflüchtete wird seit Jahren von Fachorganisationen - wie den Fachverbänden für Erziehungshilfen, dem BumF oder auch Kinder- und Jugendhilfeträgern - fachlich kritisch diskutiert und als politisch motiviert zurückgewiesen. Diverse Rechtsgutachten und -einschätzungen zeigen zudem auf, dass eine Ungleichbehandlung von geflüchteten und nicht-geflüchteten jungen Menschen mit dem Recht nicht in Einklang zu bringen ist und die Grundrechte von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verletzt.

Vorgehen ist falsch und wird zurückgewiesen

Im Wissen um diese fachliche und rechtliche Einschätzung haben diverse Bundesländer pauschal Altersgruppen und Bedarfslagen von Minderjährigen identifiziert, die eine ungleiche Behandlung von jungen Geflüchteten rechtfertigen sollen. Dieses Vorgehen ist nicht nur fachlich zurückzuweisen, sondern stellt eine massive Verletzung der Grundrechte dieser besonders vulnerablen Kinder und Jugendlichen durch staatliches Handeln dar.

Die pauschale Abweichung von Qualitätsstandards für umF sind mit geltendem nationalen, wie internationalem Recht nicht im Einklang und diskriminieren junge Geflüchtete in besonderer Weise. In einem aktuellen Fachbeitrag zur Einschätzung der rechtlichen Grundlagen einer pauschalen Standardabsenkung über Erlasse und Empfehlungen verschiedener Bundesländer wird rechtlich fundiert deutlich: Geflüchtete unbegleitet Minderjährig sind in besonderem Maße auf den Schutz und die Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe angewiesen.

Ausgerechnet jungen Menschen, die ohne Eltern oder Personen, die für sie verantwortlich sind, eine Flucht bewältigt haben, alleine Adoleszenz- und zentrale Entwicklungsprozesse durchleben müssen, Verluste und Trennung von den Eltern und Familien zu verarbeiten haben, wird in aktuellen politischen Forderungen - entgegen bestehenden Erkenntnisse - ein im Gegensatz zu anderen Gleichaltrigen niedrigerer Bedarf an Leistungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe unterstellt, sodass sie in SGB-VIII-fremden Unterkünften untergebracht werden können. Dabei werden entlang gesetzlich nicht vorgesehener, rein politisch konstruierter Differenzkategorien (wie willkürliche Altersgrenzen oder Geschlecht) pauschale niedrigere Bedarfe konstruiert.

Keine pauschale Zuordnung nach Bedarfslagen

Abgesehen von der besonderen, allein schon rechtlichen Vulnerabilität von unbegleiteten Minderjährigen, steht insbesondere der Grundsatz der individuellen Bedarfsermittlung und der Eignung der Maßnahme beziehungsweise Hilfe im Widerspruch zu einer pauschalen Zuordnung von Bedarfslagen nach ganzen Personengruppen, hier unbegleiteten Minderjährigen, im Hinblick auf deren Aufnahme, Versorgung und Betreuung.

Insgesamt findet sich weder im SGB VIII selbst noch nach der rechtlichen Systematik und dem Sinn und Zweck der Kinder- und Jugendhilfe ein Anknüpfungspunkt für eine benachteiligende Andersbehandlung von unbegleiteten Minderjährigen bei der Ausgestaltung der Inobhutnahme und den individuellen Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unterliegen dem Primat der Kinder- und Jugendhilfe und damit dem Anwendungsbereich des SGB VIII.

Latente Gefährdungsgefahr besteht immer

Anknüpfungspunkt ist im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe immer die individuelle Lebenssituation der jeweiligen Person und der entsprechende individuelle Hilfebedarf. Dabei ist die (vorläufige) Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen zwingend, da in ihrem Fall immer eine latente Gefährdungssituation aufgrund der Abwesenheit von Personensorge- und Erziehungsberechtigten besteht. Der dahinterstehende Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe ist sowohl verfassungsrechtlich durch die Schutzverpflichtung des Staates vorgegeben als auch völker- und europarechtlich geboten".

Die UnterzeichnerInnen fordern die Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf, zum Primat der Kinder- und Jugendhilfe und Rechtsstaatlichkeit - als Schutz der BürgerInnen vor staatlicher Willkür - zurückzukehren. Die Rechte der jungen Geflüchteten sind kein Spielball politischer Stimmungslagen. Es handelt sich vielmehr um Menschenrechte, die unveräußerlich sind und überall und für alle gelten - auch in Deutschland! Es braucht eine verlässliche Infrastruktur für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Die Kinder- und Jugendhilfe ist rechtebasiert auszugestalten und darf nicht über rechtswidrige Praxen und aufgrund von politischem Druck sukzessive ausgehöhlt werden.

UnterzeichnerIinnen: • AWO Bundesverband e.V. • Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. • Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V. • Bundesnetzwerk Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe e.V. • Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe e.V. • Deutscher Paritätische Gesamtverband - Gesamtverband e.V. • Diakonie Deutschland e.V. • Die Kinderschutz-Zentren e.V. • Evangelischer Erziehungsverband e.V. • Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. • Internationaler Bund (IB) • MINA - Leben in Vielfalt e.V. • terre des hommes Deutschland e. V. • Prof. Dr. Mechthild Wolff, Hochschule Landshut, Studiengangsleitung Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe • Prof. Dr. Timo Ackermann, Alice Salomon Hochschule Berlin, Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe • Norbert Struck, Berlin