sozial-Branche

Sterbehilfe

Gastbeitrag

Der Lebensschutz bleibt auf der Strecke




Karl Beine
epd-bild/privat
Der Psychiatrieprofessor Karl Beine beklagt in der Debatte über Suizidassistenz die Entwicklung, dass das Selbstbestimmungsrecht ohne ausreichenden Rückbezug auf den Lebensschutz diskutiert werde. Eine Regelung zur Suizidbeihilfe müsse sicherstellen, dass zwei unabhängige Fachleute zu unterschiedlichen Zeiten feststellen, dass ein sterbewilliger Mensch seine Suizidentscheidung frei verantwortlich treffe, fordert Beine in seinem Gastbeitrag für epd sozial.

Selbsttötungen sind so alt wie die Menschheit. Seit jeher haben sich Menschen das Leben genommen. Allein das Alte Testament berichtet von sieben Suiziden. Grundlegend für den Suizidwunsch ist, einen gegenwärtigen oder in Zukunft befürchteten Zustand nicht erleben zu müssen. Das eigene Leben wird nicht länger als lebenswert empfunden. Diese individuelle Bewertung hängt unvermeidlich auch mit wechselnden gesellschaftlichen Wertvorstellungen zusammen, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

Schon in antiken Schriften finden sich Hinweise dafür, dass die Älteren sich durch den Tod entfernen und den Jüngeren aus dem Wege gehen sollten. Plutarch hat von einem Brauch auf der Insel Kea berichtet. Hier sollen Alte, wenn sie das Gefühl hatten, dass ihr Leben für sie selbst oder die Gemeinschaft zur Last wurde, einen Schierlingsbecher getrunken haben. Die Stoiker dagegen, allen voran Seneca, betonten die Autonomie des Individuums, die freiheitliche Selbstbestimmung. Gerade im Angesicht des Todes sollte das Individuum nicht die Macht über das eigene Leben und den eigenen Tod verlieren.

Ein hoch emotionalisiertes Streitthema

Über Jahrhunderte galt menschliches Leben in weiten Teilen Europas als Wert an sich und unverfügbar. Die Ärzte hatten geschworen, niemandem ein tödliches Gift zu verabreichen, auch nicht auf seine Bitte hin. Sich selbst zu töten, war gesetzlich verboten und wurde von den christlichen Kirchen als Sünde geächtet - mit grausamen Konsequenzen: Unehrenhafte Bestattung unter dem Galgen, ewige Verdammnis, Einzug des Vermögens.

Gleichwohl blieben die Selbsttötungen ein hoch emotionalisiertes Streitthema. Immerhin wird seit 1871 der Suizid in Deutschland nicht mehr bestraft. Zu dieser Zeit flammte die Diskussion über die Selbstbestimmung am Lebensende erneut auf. Sehr bald verschmolzen die Themen Selbstbestimmung am Lebensende, Tötung auf Verlangen, die Verhütung erbkranken Nachwuchses und „Gewährung des Gnadentodes“ zu einer übergreifenden, pseudowissenschaftlich und politisch aufgeladenen Debatte. Lange bevor Nazi-Deutschland seine Euthanasieverbrechen beging, hatte es eine jahrzehntelang währende Debatte gegeben, die den Lebensschutz schleichend immer mehr in den Hintergrund geschoben hatte.

Nun zeichnet sich seit den 1980er Jahren in Deutschland eine Entwicklung ab, bei der erneut das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Menschen ohne ausreichenden Rückbezug auf den Lebensschutz diskutiert wird. Einigermaßen geschichtsvergessen wird der willentlich vorverlegte Todeszeitpunkt als Ausdruck höchster Selbstbestimmung in Freiheit glorifiziert. Dabei ist der Begriff „Freitod“ ein Euphemismus - ähnlich wie die Formel vom „selbstbestimmten Sterben“. Diese inzwischen verfestigten Begriffe beschönigen das tatsächliche Geschehen. Die tatsächliche Selbstbestimmung erschöpft sich allenfalls darin, den eigenen Todeszeitpunkt vorzuziehen. Längst aber sind die Metaphern vom „selbstbestimmten Sterben“ und vom „Freitod“ fest in der Umgangssprache verankert. So ist eine veränderte Denkumgebung entstanden, die Handlungen nach sich zieht. Der natürliche Tod rückt so in die Nähe eines vermeidbaren Übels. Selbsttötungen - allein oder mithilfe Anderer - wird so der Weg in die Normalität gebahnt.

Ausdruck und Verstärker dieser Entwicklung ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das im Februar 2020 ein Recht auf „selbstbestimmtes Sterben“ festgeschrieben hat. Dieses Recht gilt allerdings nur dann, wenn die Suizidentscheidung frei getroffen wurde und von Dauer ist, die Person zuvor umfassend aufgeklärt und die Willensentscheidung ohne äußeren Druck zustande gekommen ist.

Idealisierung des Selbstbestimmungsrechts

Mit ihrem Urteil haben die Verfassungsrichter die Idealisierung des Selbstbestimmungsrechts noch einmal verstärkt, weil die äußeren Einflüsse auf das Zustandekommen einer „freien“ Suizidentscheidung zu wenig in Betracht gezogen wurden. Das gesellschaftliche Klima hat aber Einfluss auf persönliche Bewertungen. Die immer wieder verwendeten Begriffe von der „Überalterung“, der „Rentnerschwemme“, der „Kostenexplosion im Gesundheitswesen“ oder dem „Pflegenotstand“ sind sicher nicht dazu angetan, den Lebensmut vulnerabler Menschen zu stärken. Die Zustände in nicht wenigen Alten- und Pflegeheimen oder Kliniken sind bereits jetzt so, dass die Neigung, den eigenen Suizid in Erwägung zu ziehen, eher gefördert denn gebremst wird. Niemand möchte schließlich anderen zur Last fallen.

Allein diese Versorgungsrealitäten, verstärkt durch die unzureichende Suizidprävention und die Idealisierung des Freitodes, deformieren die „freie“ Willensbildung und schwächen den Lebensschutz weiter. Die unausgesprochene Botschaft heißt: Wie immer die Umstände auch sein mögen: Man kann sich ja „befreien“ mit dem legalisierten assistierten Suizid.

Im Sommer 2023 hat der Bundestag den Versuch unternommen, mit einem Gesetz die Beihilfe zum Suizid zu regeln. Eine Einigung kam nicht zustande. Die Auffassungsunterschiede, wie denn der Zugang zu den lebensbeendenden Wirkstoffen geregelt sein solle, waren zu groß. Einigen konnte man sich lediglich auf die Forderung nach einer umfassenden Suizidprävention und einem Suizidpräventionsgesetz. Die weitere Entwicklung wird nicht zuletzt davon abhängen, ob die Rahmenbedingungen und das Klima so gestaltet werden können, dass ein lebensbejahender Mentalitätswandel gefördert wird.

419 ärztliche Freitodbegleitungen im Jahr 2023

Derzeit läuft die Entwicklung indes in eine andere Richtung. Die Anzahl der Suizidtoten stieg 2023 erstmals seit vielen Jahren wieder an. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bieten einige Vereine „Freitodbegleitung“ an. Der größte dieser Vereine, die „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben“, hat im Jahr 2023 insgesamt 419 ärztliche Freitodbegleitungen gemeldet, im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von rund 90 Prozent.

Wie anfällig für Missbrauch die derzeitige Situation ist, zeigen aktuelle Gerichtsverfahren. Der 81-jährige Johann Friedrich S. wurde vom Landgericht Essen wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil er Beihilfe zum Suizid geleistet hat, obwohl das suizidwillige Opfer zu einer freiverantwortlichen Entscheidung zum Tatzeitpunkt nicht in der Lage war. Der 74-jährige ehemalige Berliner Hausarzt Christoph T. wurde in Berlin ebenfalls verurteilt: Er hatte einer akut depressiven Studentin bei ihrem Suizid geholfen, obwohl die Frau aufgrund ihres Gesundheitszustandes keine freie Willensentscheidung treffen konnte.

Im August 2019 spritzte eine Ehefrau ihrem mehrfach erkrankten und sterbewilligen Ehemann auf dessen Bitte eine todesursächliche Überdosis Insulin. Zuvor hatte sie auf Verlangen des Ehemannes alle verfügbaren Tabletten zusammengetragen, die der Mann selbstständig eingenommen hatte. Das Landgericht Stendal verurteilte die Frau wegen Tötung auf Verlangen zu einer einjährigen Freiheitsstrafe. Im Juni 2022 hob der BGH das Urteil auf und sprach die Ehefrau frei. Über die Ausführung des lebensbeendenden Aktes habe allein der Mann bestimmt, der auch an den Tabletten gestorben wäre - nur eben später. Die Ehefrau hat lediglich straffreie Beihilfe zum Suizid geleistet - so der BGH. Damit billigt der BGH, dass unter bestimmten Umständen die aktive Sterbehilfe zulässig ist.

Die angesprochenen Gerichtsverfahren zeigen, dass die ausschließlich an die freiverantwortliche Entscheidung des Einzelnen gebundene Suizidhilfe zum Einfallstor für Aufweichungen des Lebensschutzes wird. Der „freie Wille“ ist eben keine objektivierbare Größe, sondern ein soziales Konstrukt, mit weiten Interpretationsmöglichkeiten. Neben den Schwierigkeiten, eine freiverantwortliche Suizidentscheidung tatsächlich festzustellen, zeigt ein Blick nach Belgien, Kanada oder Holland, wie geräuscharm die legalisierte Beihilfe zur Selbsttötung zum Türöffner für die Ausweitung von weitergehender Sterbehilfe geworden ist. Aus Kanada wurde zuletzt berichtet, dass Menschen mit Behinderungen und teure Patienten zum Suizid ermuntert werden.

Risiken und Nebenwirkungen mitbedenken

Um eine ausgewogene und beständige Balance zwischen dem Recht auf assistierten Suizid und dem generellen Lebensschutz zu erreichen, müssen die aktuellen und zukünftigen Risiken und Nebenwirkungen mitbedacht werden. Dazu sind die Berücksichtigung von Erfahrungen aus anderen Ländern und historische Kenntnisse unverzichtbar. Was ist mit jenen Menschen, die keine frei verantwortliche Entscheidung treffen können? Haben auch Minderjährige das Recht auf assistierten Suizid, wie etwa heute schon in Belgien? Wie lässt sich der Gefahr begegnen, dass aus dem individuellen Recht auf Suizidbeihilfe eine unausgesprochene gesellschaftliche Erwartung zum „freiwilligen“ Suizid wird?

All diese Risiken muss eine in Deutschland dringend benötigte Regelung zur Suizidbeihilfe bedenken. Mindestens muss sichergestellt sein, dass die Feststellung einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung von zwei unabhängigen Fachleuten zu unterschiedlichen Zeiten erfolgt - frei von finanziellen Anreizen. Die direkte Beihilfe zur Selbsttötung muss davon personell und organisatorisch getrennt sein. Die Beihilfe zum Suizid bei Minderjährigen muss prinzipiell ausgeschlossen sein.

Erforderlich ist eine Regelung, die den gesicherten freien Willen des Einzelnen respektiert, ohne den Lebensschutz zu vernachlässigen. Der flächendeckende Ausbau der Palliativmedizin, eine ausreichende Hospiz-Versorgung, eine verbesserte Alltagsassistenz für ältere Menschen im gewohnten Umfeld und eine ausreichende Suizidprophylaxe sind Grundvoraussetzungen für freie Entscheidungen.

Karl Beine ist emeritierter Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke.


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Arzt sieht gesetzliche Regelung kritisch

Fürth (epd). Der Mediziner und langjährige Leiter des Hospizvereins Region Fürth, Roland Hanke, sieht Versuche kritisch, die Sterbehilfe gesetzlich zu regulieren. „Gesetze sind sehr starr. Einen Menschen und seine Individualität durch diese Gesetze abzubilden, ist meines Erachtens nicht möglich“, sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ärztinnen und Ärzte seien aber dankbar für Rechtsprechungen, die Sterbehilfe erlauben und die Situationen beschreiben, in denen Sterbehilfe möglich und in denen sie verboten sei.

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