sozial-Politik

Missbrauch

Interview

Forscherin: "Betroffene müssen ihre Akte einsehen können"




Julia Gebrande
epd-bild/Aufarbeitungskommission/Christine Fenzl
Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Anti-Missbrauchs-Gesetzes vorgelegt. Aus Kirchen und Verbänden kommt Zustimmung, aber auch Kritik. Drei Fragen an die Sozialwissenschaftlerin und Vorsitzende der Unabhängigen Aufarbeitungskommission, Julia Gebrande.

Berlin (epd). Die Forscherin Julia Gebrande legt den Finger in die Wunde: In Deutschland fehlen einheitliche Standards, wie die Aufarbeitung von Missbrauch erfolgt. Die liege immer noch in der Verantwortung der Institutionen. „Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Betroffenenbeteiligung und wie sie organisiert wird“, so die Expertin. Die Fragen stellte Bettina Markmeyer.

epd sozial: Gibt es in Deutschland eine unabhängige Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in Kirchen und anderen Institutionen?

Julia Gebrande: Es ist in Deutschland sehr uneinheitlich, wie Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stattfindet. Wir haben einen Flickenteppich unterschiedlichster Formen von Aufarbeitungsprojekten und von Aufarbeitungsprozessen in den Institutionen. Die eine, unabhängige Aufarbeitung gibt es nicht, weil dieser Prozess den Institutionen selbst überlassen ist. Für die beiden großen christlichen Kirchen gilt zwar die gemeinsame Erklärung mit der Unabhängigen Beauftragten, und für den Sport ist das zukünftige Zentrum für Safe Sport zuständig - jedoch ist die konkrete Aufarbeitung immer noch in der Verantwortung der Institutionen. Deshalb war es das Anliegen unserer Kommission, verbindliche Standards für die Institutionen zu formulieren, die aufarbeiten wollen. Unabhängigkeit ist dabei die wichtigste Voraussetzung. Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Betroffenenbeteiligung und wie sie organisiert wird.

epd: Warum fordert die Aufarbeitungskommission ein Akteneinsichtsrecht

Gebrande: Vielen Betroffenen, die sich mit ihrer Vergangenheit beschäftigen, fehlt Wissen in ihrer Biografie, zum Beispiel über die Täter und Täterinnen oder die Rolle von Angehörigen und Behörden. Wenn man ein Recht für Betroffene auf individuelle Aufarbeitung verankern will - wie es im geplanten Gesetz angelegt ist - bedeutet das auch, dass Menschen Zugang zu all den Akten bekommen, die über ihre Person angelegt wurden. In der Praxis ist es jedoch wichtig, dass sie unterstützt werden durch Fachkräfte, um überhaupt den Zugang zu bekommen und um die Informationen dann gut einordnen zu können.

epd: Was brauchen Betroffene, die der Aufarbeitungskommission ihre Geschichte anvertrauen, am dringendsten?

Gebrande: Viele Betroffene berichten uns, dass sie zum ersten Mal darüber reden, was ihnen widerfahren ist. Deshalb ist es ganz wichtig, dass sie einen geschützten Raum zur Verfügung haben und sicher sein können, dass ihre Geschichte hier in guten Händen ist. Dazu gehört, dass ihnen geglaubt wird und dass sie die Möglichkeit haben, von ihren Erfahrungen selbstbestimmt zu erzählen. Sehr viele Betroffene wünschen sich, dass mit diesen persönlichen Erfahrungsberichten etwas geschieht: dass Konsequenzen gezogen werden, dass Empfehlungen ausgesprochen werden für die Gesellschaft und an die Politik. Sie sagen: Ich möchte meine Geschichte erzählen, damit so etwas nie wieder passiert, wie das, was mir widerfahren ist.



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