Mannheim (epd). Ein möglicherweise minderjähriger und ohne Angehörige eingereister Flüchtling hat auch während der behördlichen Altersfeststellung Anspruch auf einen Verfahrensbeistand. Denn die EU-Aufnahmerichtlinie sieht auch bei noch unklarem Alter die Bereitstellung eines Verfahrensbeistands aus Kindeswohlgründen verpflichtend vor, entschied der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg in einem am 15. April bekanntgegebenen Beschluss. Weil der deutsche Gesetzgeber die Richtlinie nicht in deutsches Recht umgewandelt hat, sei diese unmittelbar anwendbar, befand das Gericht.
Konkret ging es um einen unbegleiteten, nach Deutschland eingereisten Flüchtling, bei dem nicht klar war, ob er bereits volljährig ist oder nicht. Nach seinem Asylantrag brachte ihn die Stadt Freiburg Ende Oktober 2023 vorläufig in einer Einrichtung für minderjährige Flüchtlinge unter.
Das Jugendamt bezweifelte die Minderjährigkeit des Flüchtlings und leitete ein Altersfeststellungsverfahren ein. Zwei Behördenmitarbeiter kamen nach dem äußeren Eindruck und der Befragung des Asylsuchenden zu dem Ergebnis, dass dieser volljährig sei. Daraufhin beendete die Stadt die Inobhutnahme. Der Flüchtling legte dagegen Widerspruch ein und machte vorläufigen Rechtsschutz geltend.
Das Verwaltungsgericht Freiburg entschied, dass der Widerspruch voraussichtlich Erfolg haben werde. Denn dem Antragsteller hätte bei der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ein Verfahrensbeistand zur Seite gestellt werden müssen, der die Rechte von Kindern wahrnimmt. Doch das sei unterlassen worden. Die Stadt meinte, dass ein Verfahrensbeistand während des Altersfeststellungsverfahrens nicht vorgesehen sei.
Der VGH entschied nun aber, dass nach der EU-Aufnahmerichtlinie die Stadt zur Wahrung des Kindeswohls verpflichtet sei, einen Beistand zu bestellen. Das gelte zumindest dann, wenn die Minderjährigkeit des unbegleiteten Asylbewerbers nicht ausgeschlossen werden könne. Die Altersfeststellung sei entscheidend für eine kindergerechte Unterbringung. Der deutsche Gesetzgeber habe die nach EU-Recht geltende Verpflichtung zum Schutz des Kindeswohls nicht umgesetzt, sodass die EU-Richtlinie unmittelbar anwendbar sei.
Etwas anderes gelte nur dann, wenn der möglicherweise Minderjährige bereits bei der Altersfeststellung in der Lage sei, dem Verfahren zu folgen und er seine Belange selbst und ohne Unterstützung geltend machen kann.
Az.: 12 S 77/24