Wuppertal (epd). Es ist zwar schon ein Vierteljahrhundert her, aber Martin Lindheimer erinnert sich noch sehr gut daran: Er sei in einer Psychiatrie-Klinik überwältigt und vom Personal an ein Bett gebunden worden. Sein Widerstand sei zwecklos gewesen. Für ihn sei das eine traumatische Erfahrung gewesen, sagt der Psychiatrie-Erfahrene aus Wuppertal, der als Referent beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe arbeitet. „Unabhängige psychiatrische Beschwerdestellen gab es damals nicht.“ Mittlerweile gibt es sie jedoch in mehreren Bundesländern.
Zwang in der Psychiatrie wird von Betroffenen als Angriff auf ihre Menschenwürde empfunden. Das Bundesverfassungsgericht stellte in einem Urteil im Juli 2018 fest, dass die Fixierung von Patienten einen Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Person nach Artikel 2 des Grundgesetzes darstelle (AZ: 2 BvR 309/15 und 2 BvR 502/16). Ein solcher Eingriff sei daher nur als „letztes Mittel“ gerechtfertigt. Dauere die Fixierung länger als eine halbe Stunde, müsse ein Richter sie genehmigen.
Lindheimer sagt, er habe zwei Jahrzehnte nach seiner Fixierung „immer noch Albträume“. Er bekam im Jahr 2001 ernste psychische Probleme, als er sich auf die Abitur-Prüfungen vorbereitete: „Ich hatte mich daheim eingeschlossen und nur noch gelernt.“ Er sei in einen „aufgedrehten Zustand“ geraten, habe mehrere Nächte nicht geschlafen. Besorgte Freunde hätten schließlich den Rettungsdienst gerufen.
Er sei in der Psychiatrie gelandet. Wegen seiner Weigerung zu bleiben, sei er fixiert worden. Ihm sei ein Katheter gelegt worden, um ihn mit einer Nährstofflösung zu versorgen. Erst nach mehreren Tagen sei er von seinem Bett losgebunden worden.
Auch wenn sich in der Psychiatrie seit 2001 viel geändert hat, bleibt das Thema Fixierung ein heißes Eisen. „Es ist Teil des Behandlungsauftrags psychiatrischer Kliniken, Patientinnen und Patienten sowie Dritte vor krankheitsbedingten Gefährdungen zu schützen“, erklärte dazu die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) auf Anfrage. Dabei könne es auch zu unfreiwilligen Unterbringungen und Zwangsmaßnahmen kommen. Dies sei für „alle Beteiligten eine große emotionale und körperliche Belastung“.
Patrick Nieswand, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), begrüßt die Einrichtung von Beschwerdestellen. „Sie haben eine wichtige Ombudsfunktion“, betont er. Beschwerdestellen gehören in der Regel Psychiater oder Psychotherapeuten an, aber auch Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige.
Die meisten Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland haben spezielle Gesetze für psychisch Kranke (PsychKG) beschlossen, in denen es neben Hilfen für psychisch Kranke überwiegend um die Regelung von Unterbringung und Zwangsmaßnahmen, also den Eingriff in die oben genannten Grundrechte, geht. In vier Bundesländern - Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Saarland - gelten für psychisch kranke Menschen spezielle Gesetze, die ausschließlich die Unterbringung regeln.
Die DGSP hält laut einer Information auf ihrer Homepage die Form der unabhängigen Beschwerdestelle für die Beschwerdeinstanz, die am besten geeignet ist, die Beschwerdekultur in der Psychiatrie zu verbessern. „Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige erleben bisher eher Ablehnung und Negierung, wenn sie sich gegen Missstände wehren wollen. Deshalb trauen sie sich oft nicht, Beschwerden direkt vor Ort vorzubringen. Wenn sie aber erfahren, dass sie hier ernst genommen und unterstützt werden, gelingt es, sie dazu zu bringen, sich für ihre Rechte selbst einzusetzen.“ Nur durch positiven Umgang mit Beschwerden und Beschwerdeführern könne es gelingen, Psychiatrie-Erfahrene aus der Ecke der passiven Hilfeempfänger zu holen.
In Würzburg existiert seit zwei Jahren die Unabhängige psychiatrische Beschwerdestelle „Einspruch“. „Bisher hatten wir 41 Fälle“, berichtet Berater Dirk Pychynski. Kürzlich sei das Team von einer Frau kontaktiert worden, die wieder bei ihrer Mutter eingezogen war. Immer wieder habe es zwischen den beiden Frauen heftige Konflikte gegeben. Mehrmals sei die Polizei gekommen und habe die Frau schließlich gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik gebracht. Als sie sich an „Einspruch“ gewandt habe, habe sich die Beschwerdestelle für sie nach Unterkünften des betreuten Wohnens umgesehen. Laut Pychynski stehen die Chancen gut, dass sie dort bald einziehen kann.
Unter den Psychiatrie-Patienten, die sich an „Einspruch“ wandten, sei auch eine Klientin gewesen, „die 1987 zwangseingewiesen wurde und das bis heute nicht verkraftet hat“, berichtet Pychynski. Dass sie sich darüber bei „Einspruch“ offen aussprechen konnte, habe sie enorm entlastet: „Wir waren die ersten, denen sie davon erzählte.“ Nicht einmal ihr Mann habe offenbar davon gewusst.
Bei der Informations-, Beratungs- und Beschwerdestelle (IBB) im Landkreis Karlsruhe engagiert sich Rainer Bansbach. Der 74-Jährige war selbst einmal Psychiatrie-Patient: „Ich wurde einmal in einer Klinik zwangsbehandelt.“ Das sei nicht schön gewesen, aber auch nicht grundfalsch, denn zuvor sei er aggressiv geworden. Bansbach lehnt Zwang in der Psychiatrie nicht kategorisch ab.