Hamburg (epd). Ein kleiner Kratzer am Bein ist eigentlich kein Problem: „Für obdachlose Menschen schon“, weiß Notfallsanitäterin Henrike Lux (29). Sie hat schon viele große Entzündungen verbunden, die mal ein Kratzer waren. Lux: „Auf der Straße ist es schwer, Wunden sauber zu halten.“ Seit fast einem Jahr arbeitet die junge Frau mit drei anderen Fachkräften im Notpflege-Team der neu gebauten Bahnhofsmission Hamburg. Laut Deutscher Bahn ist es bundesweit das bisher einzige Projekt dieser Art.
Der Bedarf ist groß: Immer mehr pflegebedürftige oder körperlich verelendete Menschen stranden am Hauptbahnhof. „Die Lage ist dramatischer geworden“, sagt Axel Mangat, Leiter der Bahnhofsmission Hamburg. Seit April 2023 fanden über 1.000 Behandlungen in den Notpflege-Räumen statt, am häufigsten waren es Verbandswechsel (500), gefolgt von Körperpflege (300) und Läuse-Behandlungen (120). „Das ist mehr, als ich erwartet habe“, sagt Mangat.
Sein niedrigschwelliges Angebot schließe eine Lücke: Viele Gäste hätten keinen Anspruch auf Hilfe und seien nicht krankenversichert. Zudem seien andere Hilfsangebote für bewegungseingeschränkte Menschen oft ein Problem. Deshalb ist das Notpflegezentrum mit einer barrierefreien Dusche, einer Sitzbadewanne und einem Pflegeraum für assistenzbedürftige Gäste ausgestattet.
Und das Team hat Zeit. Schnell sein muss hier niemand. „Das ist etwas Besonderes“, findet Lux. Es dauert eben länger, bis die Pflegerin das Vertrauen der Menschen gewinnt. „Menschen auf der Straße sind ja quasi nie nackt, und Körperpflege ist etwas sehr Intimes“, sagt die 29-Jährige, die pro Gast eine Stunde rechnet. Viele Menschen, die zu ihr kommen, hätten kein echtes Bewusstsein mehr für ihren Körper. Wunden werden versteckt, geschwollene Füße in zu kleine Schuhe gequetscht. Oft ist sie erstmal nur da, hört zu. Lux: „Es braucht Mut, die Hose hochzukrempeln, eine Wunde zu zeigen, anstatt sie unterm Stoff zu verstecken und den Schmerz mit Alkohol zu betäuben.“
An fünf Tagen in der Woche kümmern sich zwei Pflegekräfte um die oft älteren Obdachlosen zwischen 50 und 60 Jahren. Manche könnten sich nicht allein aus der Kleidung schälen. Die Gäste würden gewaschen, Wunden desinfiziert und verbunden. „Dreckige Kleidung wird natürlich durch frische ersetzt“, erklärt Lux, die in Kürze auch medizinische Fußpflege anbieten will. „Füße von obdachlosen Menschen sind am meisten belastet, weil sie oft nur zu kleine, nasse oder kaputte Schuhe tragen.“
Schon nach relativ kurzer Zeit hat die Notpflege einen positiven Effekt. Wunden würden besser heilen und die Menschen weniger Rauschmittel konsumieren. „Oft sehen wir eine positive Wesensveränderung“, sagt Lux. Ein verbessertes Körperbewusstsein stärke auch das Selbstwertgefühl und die Lebensqualität.
Das, was als Wasch-Unterstützung begann, gebe vielleicht auch den Anstoß, sich positiv zu verändern. „Über das gewonnene Vertrauen haben wir oft eine gute Basis für weiterführende Gespräche“, erklärt die Notfallsanitäterrin. Über 150 Beratungen fanden im ersten Jahr in der Notpflegehilfe statt. Bahnhofsmissionschef Mangat: „Es ist unser Ziel, die Menschen weiterzuvermitteln und herauszufinden, wen sie an ihrer Seite brauchen.“
Während Wohnungslose auf der Straße Gesprächsangebote eher zurückweisen, sieht das in der Notpflege anders aus: „Frisch geduscht und eingekleidet sind Menschen offener für Gespräche“, weiß Lux. So wie die Frau, die mit offenen Stellen und massiven Wassereinlagerungen in den Beinen bei ihr war. Lux konnte sie an eine Krankenstation vermitteln, heute lebt die Frau in einem Container, trägt medizinische Schuhe, kümmert sich um ihre Wäsche und kommt noch regelmäßig zur Kontrolle vorbei. „Sie hat ein ganz anderes Bewusstsein für ihren Körper bekommen“, freut sich Lux. Manchmal bringt ihr die Frau auch etwas Süßes vom Bäcker mit. Als Dankeschön.