sozial-Recht

Bundessozialgericht

Schwer psychisch kranken Asylbewerbern muss geholfen werden




Therapiegespräch mit traumatisiertem Flüchtling
epd-bild/Jörn Neumann
Das Bundessozialgericht hat den Krankenversicherungsschutz für geduldete Ausländer erweitert. Danach kann auch die Therapie bei einer schweren chronischen psychischen Erkrankung von der Sozialhilfe bezahlt werden, wenn "akuter Behandlungsbedarf" besteht.

Kassel (epd). Schwer psychisch erkrankte Asylbewerber haben bei einem „akuten Behandlungsbedarf“ Anspruch auf medizinische Versorgung. Dies gilt auch für chronische Erkrankungen, die nur mit einer unaufschiebbaren stationären Therapie in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt werden können, urteilte am 29. Februar das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben Asylsuchende nur einen eingeschränkten Anspruch auf Krankenbehandlung. Sozialhilfeträger müssen ihnen bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen die „erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung sowie sonstige zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen“ erforderlichen Leistungen gewähren. Im Einzelfall können auch „sonstige Leistungen“ gewährt werden, wenn dies zur Sicherung der Gesundheit „unerlässlich“ oder „zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten“ ist.

Suizidversuch eines Mitbewohners

Im vom BSG entschiedenen Fall ging es um einen afghanischen Asylbewerber, der im Juni 2018 nach Deutschland eingereist war. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er erhielt jedoch eine Duldung. Wegen seiner Fluchterlebnisse und dem Suizidversuch eines Mitbewohners in der Flüchtlingsunterkunft im Raum Hildesheim entwickelte sich bei dem Flüchtling eine psychische Erkrankung. Er suchte Hilfe bei einem Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge in Hannover. Die empfohlene Teilnahme an einer ambulanten Stabilisierungsgruppe nahm er nicht wahr, da der Landkreis Hildesheim die Fahrkosten nicht übernehmen wollte.

Wegen einer schweren depressiven Episode und einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und „Eigengefährdung“ wurde er am 19. März 2019 als Notfall in einer Psychiatrie stationär aufgenommen. Die Kosten für die rund vierwöchige Behandlung in Höhe von knapp 9.000 Euro übernahm der Landkreis als zuständiger Sozialhilfeträger nicht, obwohl das eigene Gesundheitsamt dies empfohlen hatte.

Bei der depressiven Episode und der PTBS handele es sich um eine chronische Erkrankung, argumentierte der Landkreis. Der geduldete Flüchtling könne aber nur bei akuten Erkrankungen eine Kostenübernahme für die erforderliche medizinische Behandlung verlangen.

Behandlung war „unaufschiebbar“

Das BSG urteilte, dass der Flüchtling von den Behandlungskosten freigestellt werden muss und der Landkreis dafür aufkommen muss. Zwar handele es sich bei einer depressiven Episode und der PTBS um eine chronische Erkrankung. Der Sozialhilfeträger müsse aber für die stationäre Aufnahme zahlen, wenn auch bei einer chronischen Erkrankung ein „akuter Behandlungsbedarf“ besteht und die Behandlung „unaufschiebbar“ ist. Hier habe ohne stationäre Aufnahme eine akute Verschlechterung sowie eine Eigengefährdung gedroht, betonte das BSG.

Die Behandlung der Depression und der PTBS seien von dem aufnehmenden psychiatrischen Facharzt sogar als Notfall eingestuft worden. Unabhängig vom Vorliegen eines Notfalls bestehe eine Kostenübernahmepflicht auch für Therapien, die eine unumkehrbare oder akute Verschlechterung des Gesundheitszustands abwenden können.

Bereits am 11. Juli 2018 hatte das Hessische Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt entschieden, dass geduldete Ausländer auch mit einer chronischen Hepatitis-C-Erkrankung Anspruch auf Kostenerstattung für eine erforderliche antivirale Therapie haben. Voraussetzung für die Übernahme von Krankheitskosten sei, dass der Ausländer sich nicht nur kurzfristig in Deutschland aufhält und es sich nicht um die Behandlung einer Bagatellerkrankung handele. Das Grundgesetz gewähre einen Leistungsanspruch auf Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dazu gehörten auch Gesundheitsleistungen.

Eingeschränkter Versicherungsschutz

Im Streitfall hatte der zuständige Landkreis Fulda damit einem aus Aserbaidschan stammenden abgelehnten, aber geduldeten Asylbewerber die Kostenübernahme für eine zwölfwöchige Hepatitis-C-Therapie zu Unrecht verweigert.

Das Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg urteilte am 21. Mai 2014, dass Krankenhausärzte auch bei einer fehlenden Kostenübernahme durch den Sozialhilfeträger Asylbewerber zumindest ausreichend aufklären und notwendige Untersuchungen veranlassen müssen. So sprach das Gericht einem syrischen Mädchen 40.000 Euro Schmerzensgeld zu, weil ein Arzt wegen des eingeschränkten Versicherungsschutzes des Kindes nur unzureichend untersucht und die Eltern darüber nicht aufgeklärt hatte. So wurde erst nach vier Jahren der Minderwuchs des Mädchens erkannt. Bei rechtzeitiger ärztlicher Untersuchung und Aufklärung wäre es möglich gewesen, dass über die Krankenversicherung des Vaters und mit Unterstützung durch Angehörige die Familie das Geld für eine Therapie hätten aufbringen können, stellte das OLG fest.

Az.: B 8 AY 3/23 R (Bundessozialgericht)

Az.: L 4 AY 9/18 B ER (LSG Hessen)

Az.: 5 U 216/11 (OLG Oldenburg)

Frank Leth