sozial-Branche

Jugend

Gastbeitrag

Jugendhilfe am Limit




Martin Adam
epd-bild/VPK
In der Jugendhilfe brennt es lichterloh: Es fehlt an Plätzen und Fachkräften. Martin Adam, Präsident des Verbandes freier Träger VPK, betont in seinem Gastbeitrag für epd sozial: Mit offenem Denken und neuen Lösungsansätzen lässt sich die Jugendhilfe zukunftsfest machen.

Die Jugendhilfe in Deutschland ist grundsätzlich gut aufgestellt. Angefangen bei den Angeboten zur Erziehungsberatung über die Betreuung in Pflegefamilien bis hin zum umfangreichen Feld der Heimerziehung flossen im Jahr 2022 knapp 15 Milliarden Euro in rund eine Milliarde Hilfen unterschiedlicher Angebote. Trotzdem: Die Jugendhilfe ist in meiner Wahrnehmung am Limit.

Die aktuelle Lage ist mehr als angespannt: Jugendämter stehen täglich vor der Herausforderung, zahlreiche Kinder und Jugendliche in Obhut nehmen zu müssen, aber keine Plätze für deren Unterbringung zu finden. Hinzu kommt, dass sich Jugendämter und Einrichtungen immer komplexeren Fällen stellen müssen. Offizielle Zahlen stehen zwar noch aus. Unsere Wahrnehmung als Einrichtungsträger ist aber, dass die Anzahl der jungen Menschen, die sehr spezifische Betreuung benötigt, zugenommen hat. Wir stellen fest, dass immer mehr Kinder immer früher aus ihren Herkunftsfamilien herausgenommen werden müssen, wobei die Störungsbilder dieser jungen Menschen kontinuierlich herausfordernder und die Prognosen einer Rückführung in die Familien zunehmend ungünstiger werden.

Neu definierter Einrichtungsbegriff führt zu Problemen

Erschwerend hinzu kommt der einer erfolgreichen Betreuung entgegenstehende Abbau familienanaloger Einrichtungen. Der ist das Ergebnis der Neudefinition des Einrichtungsbegriffs nach § 45a SGB VIII im Zuge der Novellierung des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG). Familienanaloge Einrichtungen richten sich an Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedarfen, die zwingend ein sehr spezielles Kleinstgruppen-Setting benötigen. Mit dem Wegfall dieser Wohnformen wird es für viele der bislang in diesen Wohnformen Betreuten zu Beziehungsabbrüchen kommen - und der schwierigen Suche nach neuen geeigneten Lösungen. Und das bei einem gleichzeitig auftretenden flächendeckenden Mangel an Betreuungsplätzen. Anders als vom Gesetzgeber intendiert, sehen wir mit der Neuregelung des § 45a SGB VIII auch keine Verbesserung des Kinderschutzes.

Diesen Entwicklungen steht ein kontinuierlich steigender Mangel an geeigneten Fachkräften gegenüber, der schon heute zum Teil dramatische Auswirkungen zeigt: Es können zu wenig Inobhutnahme-Plätze angeboten werden, was dazu führt, dass dringend schutzbedürftigen Kindern eben dieser Schutz versagt bleibt. Bundesweit sind rund 20 Prozent der Stellen in den Jugendämtern unbesetzt - mit der Folge, dass nicht mehr das gesamte Leistungsangebot ermöglicht werden kann.

Viele Einrichtungen müssen Platzangebot kappen

Gruppen in Einrichtungen müssen schließen beziehungsweise können trotz hohen Bedarfs gar nicht erst öffnen. Nach aktuellen Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft ist der Fachkräftemangel im Bereich der Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Kinderbetreuung und -erziehung im Vergleich zu allen anderen Branchen am größten - und verdrängt sogar den Bereich der Pflege. Trotzdem spielt diese Tatsache in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Damit drohen auch neue und sich aus der Novellierung des SGB VIII ergebende Rechtsansprüche in der Praxis zu scheitern. Nicht zuletzt hängt die erfolgreiche Umsetzung der Inklusion wesentlich von der Frage der Ausbildung und Gewinnung von Fachkräften ab.

Für eine optimale Betreuung und Unterstützung junger hilfebedürftiger Menschen brauchen wir passgenaue und fachlich überzeugende Konzepte für junge Menschen. Viele solcher Angebote stellt unser Verband mit seinen rund 900 Mitgliedseinrichtungen seit vielen Jahren bereit. Einen Großteil unserer Einrichtungen bilden dabei die familienähnlichen Wohnformen, für deren Erhalt sich der Bundesverband privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe VPK seit langem einsetzt. Auch bieten viele unserer Einrichtungen bereits Plätze für noch sehr junge Kinder an, wenn diese zumindest zeitweise außerhalb ihrer Herkunftsfamilie betreut werden müssen. In kleinen, auf die Bedürfnisse dieser Altersgruppe zugeschnittenen, überschaubaren stationären Settings kann hier optimal auf die besonderen Bedürfnisse dieser Zielgruppe eingegangen werden.

Kreativ sein beim Werben um Nachwuchskräfte

Eine kreative Lösung für die erfolgreiche Gewinnung von Nachwuchskräften für unsere Einrichtungen haben wir kürzlich mit der Schaltung einer Kinowerbung in Kooperation mit einem örtlichen Jugendamt und den in der Region ansässigen VPK-Mitgliedeinrichtungen gefunden. Das hat allen Beteiligten nicht nur großen Spaß gemacht, sondern gleichzeitig den kontinuierlichen Austausch und weitere gemeinsame Aktionen nach sich gezogen. Unsere Mitgliedseinrichtungen machen ihren Mitarbeitenden auch besondere Angebote zur Mitarbeiterbindung wie etwa Fort- und Weiterbildungsangebote oder Benefits für Mitarbeitende (u.a. Betreuungsplätze für Kinder, Altersvorsorge-Modelle, Prämien, flexible Arbeitszeiten/Gleitzeit-Modelle). Aber auch Investitionen in die Förderung eines positiven Betriebsklimas spielen eine wichtige Rolle.

Die oben beschriebenen Punkte zeigen, dass sich viele Träger der Kinder- und Jugendhilfe bereits auf den Weg gemacht haben, um Lösungen für die Herausforderungen zu finden. Damit diese Angebote langfristig bestehen und weiter ausgebaut werden können, bedarf es einer fachpolitischen Verständigung über die Potenziale unterschiedlicher pädagogischer Konzepte und eine verlässliche die Förderung dieser Ansätze: denn ein Mehr an überzeugenden Konzepten führt meist zu höheren Kosten.

Präventivarbeit möglichst früh starten

Zugleich muss die Präventivarbeit intensiviert werden. Das sollte idealerweise bereits in Kitas und Schulen und mit der Einbindung von Eltern und/oder anderen Familienangehörigen beginnen. Gemeinsam mit den frühen Hilfen, Einrichtungen frühkindlicher Bildung, Arbeitskräften in Kitas und Schulen und im Zuge der Arbeit mit den Familiensystemen müssen wir das Problem an seinem Ursprung angehen.

Aus unserer Sicht sind neben bundesweiten Initiativen von Politik, Verwaltung und Praxis insbesondere eine Angleichung der Fachkräftekataloge in den Bundesländern und die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen nötig. Zudem brauchen wir eine offene und konstruktive Diskussion über die Anerkennung von Quereinsteiger und - einsteigerinnen. Auch die Abschaffung der Schulkosten bei der Ausbildung und die Vereinheitlichung der Ausbildung sind Stellschrauben, die nachjustiert werden müssen.

Eine gute und auf die individuellen Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen und deren Familien zugeschnittene Jugendhilfe ist gerade in unserer von unterschiedlichen Krisen geprägten Zeit unverzichtbar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. So vielfältig die Herausforderungen auch sind, gemeinsam können wir es schaffen. Hierfür braucht es Gesprächsbereitschaft, Mut und Ausdauer auf dem gemeinsamen Weg.

Martin Adam ist Präsident des Bundesverbands privater Träger der freien Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe (VPK)