sozial-Thema

Kindesmissbrauch

Auch in evangelischer Kirche viele gewalttätige Übergriffe




Kirsten Fehrs, Amtierende Ratsvorsitzende der EKD, erhält die Studie von Verbundkoordinator Professor Martin Wazlawik von der Universität Hannover.
epd-bild/Jens Schulze
Bestürzung in der evangelischen Kirche: Eine Studie bescheinigt, dass das Ausmaß sexualisierter Gewalt dort größer ist als bislang angenommen. Im Umgang mit Betroffenen habe sie zudem große Fehler gemacht.

Hannover (epd). Auch in der evangelischen Kirche sind Kinder und Jugendliche in großem Ausmaß Opfer sexualisierter Gewalt geworden. Am 25. Januar wurde in Hannover die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegebene Studie über Missbrauch in den eigenen Reihen vorgestellt. Demnach ist das Ausmaß größer als angenommen. Die Studie macht spezielle Risikofaktoren in der evangelischen Kirche für Missbrauch aus. Zudem bescheinigt sie der Kirche eklatante Mängel im Umgang mit Betroffenen.

In der Studie ist von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede. Dabei betonten die Forscher, dass dies nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ sei, weil vor allem Disziplinar-, kaum aber Personalakten eingesehen wurden.

Kritik an „schleppender Zuarbeit“

Der an der Studie beteiligte forensische Psychiater Harald Dreßing kritisierte eine „schleppende Zuarbeit“ aus den 20 Landeskirchen. In einer von Dreßing als „sehr spekulativ“ bezeichneten Hochrechnung ergebe sich eine Zahl von mehr als 9.000 Betroffenen bei geschätzt rund 3.500 Beschuldigten. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.

Mit der bereits 2018 vorgelegten Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche, die 3.677 Opfer und 1.670 mutmaßliche Täter ermittelte, sind die Zahlen wegen der verschiedenen Datengrundlagen nicht vergleichbar. Zudem umfasst die Studie über die evangelische Kirche anders als die der katholischen auch den Bereich der Diakonie. Die EKD hatte das Forschungsvorhaben vor drei Jahren beauftragt, mit dem Wunsch, mehr über Ausmaß und mögliche strukturelle Ursachen von Missbrauch zu erfahren.

Fälle in allen kirchlichen Arbeitsbereichen nachgewiesen

Die Studie bescheinigt der evangelischen Kirche spezielle Risikofaktoren, räumt aber mit dem Gedanken auf, dass die sich auf spezielle Bereiche wie die bereits umfangreich aufgearbeitete frühere Heimerziehung oder liberale Sexualitätsdiskurse der 1970er Jahre eingrenzen lassen. In nahezu allen Angeboten und Bereichen der evangelischen Kirche habe man eine Vielzahl von Fällen nachweisen können, konstatieren die Forscher. Als besonderen Risikofaktor machen sie das Machtgefälle zwischen Beschuldigten und Betroffenen aus, beispielsweise im Verhältnis zwischen Pfarrern - meist waren die Täter Männer - und Konfirmanden.

Eklatante Defizite erkennt die Studie beim Umgang mit Missbrauchsfällen, insbesondere mit den Betroffenen. Forschungsleiter Martin Wazlawik sagte, der Föderalismus mit 20 Landeskirchen führe dazu, dass mit Betroffenen unterschiedlich umgegangen werde. Er sprach zudem von „Verantwortungsdiffusion“ und bescheinigte der evangelischen Kirche „Konfliktunfähigkeit“ und einen „Harmoniezwang“, die Aufklärung im Weg stünden. Er empfahl verbindliche Interventionsverfahren und eine einheitliche Ombudsstelle für Betroffene.

Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sprach von einem „eklatanten Versagen“ in Kirche und Diakonie. Für die Diakonie Deutschland äußerte sich Präsident Rüdiger Schuch: „Auch in Einrichtungen der Diakonie haben Menschen, die wir hätten schützen müssen, sexualisierte Gewalt erfahren. Die Institution Diakonie hat in ihrem Schutzauftrag hier versagt. Das ist für uns erschütternd. Wir erkennen das begangene Unrecht an und wir übernehmen Verantwortung. Jeder Fall ist ein Fall zu viel.“ Er kündigte an, gemeinsam mit den Betroffenen „die Aufarbeitung aller Fälle weiter voranzubringen. Dazu unterstützen wir die Arbeit des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt.“

Bereitschaft zu tiefgreifenden Veränderungen

Man werde die Ergebnisse der ForuM-Studie umgehend analysieren und mit den Landesverbänden Konsequenzen ziehen. „Wir sind entschlossen, die gesamte Praxis und Kultur der Arbeit in unserem Verband, in unseren Einrichtungen und Diensten zu prüfen und wo es nötig ist, auch tiefgreifend zu verändern“, sagte Schuch.

Betroffene sexualisierter Gewalt forderten Konsequenzen. Detlev Zander, der Betroffenenvertreter im Beteiligungsforum der EKD ist, und Katharina Kracht, die dem Beirat der Studie angehörte, verlangten externe Ansprechstellen. Die EKD dürfe nicht noch mehr Zeit „vertrödeln“, sagte Kracht. Der Studie zufolge hat die EKD erst 2018 und damit weit nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche mit der Bearbeitung des Themas richtig begonnen.

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, mit den Studienergebnissen sei es Gewissheit, dass auch in evangelischen Pfarrhäusern, Gemeinden und diakonischen Einrichtungen vielerorts Bedingungen geherrscht hätten, die Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstigten. Der SPD-Politiker Lars Castellucci forderte, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Aufklärung zu betreiben und nannte konkret eine Dunkelfeldstudie. „So viel Kritik die Kirchen auch berechtigterweise einstecken müssen, so richtig ist es, dass sie auch mit den schmerzlichen Erfahrungen der Aufarbeitung Vorreiter gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen sind“, sagte er.

Corinna Buschow, Franziska Hein