

Frankfurt a.M. (epd). Was helfen schon Bildungspläne der Bundesländer, wenn sie nicht umgesetzt werden? Kai Maaz sieht den Hebel für den Umschwung hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit in den Kitas. Hier müsse frühe Bildung nach verbindlichen Vorgaben und Standards erfolgen. Doch bis dahin sei es ein weiter Weg. „Klar ist, dass sich diese Probleme nicht in zwei Jahren lösen lassen“, so der Professor. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Herr Professur Maaz, Sie sagen, für den Bildungsaufstieg seien die ersten sechs Lebensjahre eines Kindes entscheidend. Drei davon entfallen in der Regel auf die Kitas. Nun fehlen laut einer neuen Studie bundesweit 430.000 Kita-Plätze. Wie soll da frühe Bildung und damit auch Sprachschulung überhaupt gelingen?
Kai Maaz: Da sprechen sie gleich einen ganz schwierigen Punkt an. Aber vielleicht fange ich mal lieber mit einer Positivbotschaft an, trotz der Probleme, die sich für viele Kitas aus den Zahlen ergeben, die Sie genannt haben. Wir haben in den vergangenen Jahren einen quantitativ starken Ausbau bei den Kita-Plätzen erreicht. Es gab auch einen Ausgleich in den Platzquoten zwischen Ost und West, denn der Westen hat stark aufgeholt. Und doch ist es so, dass, wenn man von den fehlenden Angeboten spricht, der Westen noch immer großen Nachholbedarf hat.
epd: Was wäre also primär zu tun?
Maaz: Man könnte das auf mehreren Wegen angehen: Es gilt auf jeden Fall, den Kita-Ausbau weiter zu forcieren und dafür auch mehr Geld in die Hand nehmen. Weil das aber oft am Fachkräftemangel zu scheitern droht, müsste man auch die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen deutlich attraktiver gestalten. Und nicht zuletzt müsste man die Qualität in den Einrichtungen heben, gerade mit Blick auf die geforderte bessere frühe Bildung.
epd: Es gibt doch in allen Bundesländern längst Bildungspläne ...
Maaz: Stimmt. Aber die müssten eine höhere Verbindlichkeit haben und vor allem auch den Bildungsauftrag präzise formulieren. Es muss ein klares und deutliches Bekenntnis für die frühe Bildung und die damit verbundenen Standards geben. Es gibt keine einfachen Erklärungen für die Pisa-Ergebnisse und auch keinen Alleinschuldigen, weder Bund, Länder noch Kommunen. Dennoch muss man festhalten, dass wir in den vergangenen zehn Jahre keinen Umschwung hinbekommen haben. Daher muss der Bereich frühe Bildung nun stärker in den Fokus rücken. Und nehmen Sie das Problem der nach wie vor bestehenden Bildungsungerechtigkeit: Im Prinzip gibt es hierfür schon viele Förderprogramme und Konzepte. Aber warum kommen diese guten Initiativen nicht überall in den Schulen an? Aus meiner Sicht liegt es daran, dass sie nicht verzahnt und kohärent sind. Und es hapert auch noch oft daran, den Sozialraum und außerschulische Bildungsträger mit zu berücksichtigen und mit ins Boot zu holen.
epd: Kommen wir noch zurück auf die Kitas. Was fehlt Ihnen da mit Blick auf die frühe Bildung an Vorgaben?
Maaz: Bestimmte Kompetenzen, die in der Grundschule vorausgesetzt werden, müssen vermittelt werden. Da geht es um altersgerechte motorische Fähigkeiten, die Kinder brauchen, wenn sie in die Schule kommen. Sie sollten etwa einen Stift halten und mit einer Schere umgehen können. Und es geht um Vorläuferkompetenzen im mathematischen Bereich. Es ist beispielsweise wichtig, dass die Kinder schon Vorstellungen von Größenunterschieden haben. Den sprachlichen Bereich muss man selbstverständlich genauso in den Blick nehmen, hier bestehen noch allzu oft große Defizite. Das ist kein Wunschkonzert. Hier braucht es klare Vorgaben, nach denen sich der Kita-Alltag ausrichten muss. Denkbar wäre auch, dass die Kitas das nicht alleine leisten müssen. Durch die Zusammenarbeit mit anderen Bildungsträgern und Vereinen könnte man etwa dafür sorgen, dass die Mädchen und Jungen gezielter auf den Übergang in die Schule vorbereitet werden. Klar ist aber auch, dass sich diese Probleme nicht in zwei Jahren lösen lassen.
epd: Kita ist nicht gleich Kita. Nur der Umstand, dass es Eltern gelungen ist, ihr Kind in einer Kita anzumelden, bedeutet ja nicht, dass alles gut wird. Was lässt sich sagen über die Qualitätsunterschiede bei der Betreuung und deren Gründe?
Maaz: Es liegt auf jeden Fall nicht allein an den finanziellen Voraussetzzungen. Denn das Gute-Kita-Gesetz hat ja viel Geld in die Länder gespült, die damit aber nur teilweise den Ausbau vorangetrieben haben. Die Fördermittel wurden recht unterschiedlich eingesetzt. Viele Bundesländer haben das Geld fast ausschließlich genutzt, um die Beiträge zu senken, was man ja aus einer Ungleichheitsperspektive richtig finden kann. Doch so entstanden eben keine neuen Kita-Plätze. Andere Länder haben die Finanzhilfen des Bundes verwendet, um den Betreuungsschlüssel in den Einrichtungen zu senken. Wenn mehr Personal eingesetzt wird, sollte das eigentlich zu einer besseren Betreuungsqualität führen. Doch die entsprechenden Fachkräfte müssen auch erst einmal verfügbar sein. Was wir aber ganz losgelöst vom Geld dringend brauchen, ist ein allgemeiner Diskurs und daraus folgend ein länderübergreifender Kulturwandel. Wir müssen eine klare Linie finden und festlegen, was in Kitas in Sachen früher Bildung passieren soll.
epd: Was soll dieser Umschwung bewirken?
Maaz: Ich meine, der Besuch einer Kita sollte nicht alleine dem freien Spiel dienen. An unterschiedlichen Zeiten oder Tagen in einer Woche müsste es echte Bildungsphasen geben, in denen die Kinder spielerisch Dinge lernen, die sie später brauchen. Es geht nicht darum, dass man aus der Kita eine Vorschule macht. Aber ich halte es für geboten, dass man spielerisch Bildungsziele für alle Kinder verfolgt. Und diese Angebote brauchen auch eine Verbindlichkeit, sie müssen obligatorisch sein, sonst verpuffen sie.
epd: Stichwort Verbindlichkeit: Immer wieder gibt es ja auch die Forderung nach einer Kita-Pflicht, zumindest für Kinder ab drei Jahren. Wäre das sinnvoll?*
Maaz: Ich habe da Zweifel. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann besucht im Jahr vor der Einschulung schon heute ein sehr großer Anteil von Kindern die Einrichtungen. Die Zahlen schwanken je nach Bundesland, liegen aber durchweg über 90 Prozent. Hier kann folglich eine Besuchspflicht nicht mehr viel ausrichten. Aber man sollte schon schauen, welche fünf bis zehn Prozent der Jahrgänge man nicht erreicht. Sind das vielleicht jene Kinder, die später mit Lernrückständen in der Grundschule zu kämpfen haben? Doch klar ist auch, dass das Problem komplexer ist. Ein Jahr vor der Einschulung kann man bestimmte Defizite nicht mehr ausgleichen. Man muss früher ansetzen, also schon ab drei oder gar schon ab zwei Jahren. Nur fehlt es dafür eben noch massiv an Kita-Angeboten. Und schließlich: Eine Besuchspflicht wie in der Schule muss man auch staatlich durchsetzen. Das halte ich für kaum möglich.
epd: Gibt es Erkenntnisse darüber, warum manche Eltern ihre Kinder nicht in die Kita bringen?
Maaz: Ja. Das wird auch alle zwei Jahre im Nationalen Bildungsbericht dokumentiert. Viele Eltern sehen in den Kitas noch keinen attraktiven Bildungsort. Hier gibt es starke soziale Effekte. Kinder aus Akademikerfamilien haben deutlich höhere Bildungsbeteiligungsquoten in Kitas als Kinder aus Familien mit niedrigeren Bildungsabschlüssen. Das gilt auch für alle Bildungsangebote außerhalb der Kitas, zum Beispiel für Musikschulen. Und das ist nicht nur eine Frage des Geldes. Vielleicht kann die geplante Kindergrundsicherung die Nutzung solcher Angebote oder der Sportvereine vereinfachen. Man muss die Eltern erreichen, muss dafür werben, wie wichtig es ist, dass Kinder Zeit miteinander verbringen und sich austauschen. Denn das bringt auch immer soziale Lerngelegenheiten mit sich - nicht nur für die Kinder, sondern durch den Austausch auch für die Eltern.
epd: Verdienen die Kitas angesichts der vielen bestehenden Mängel überhaupt schon den Titel „Bildungseinrichtungen“?
Maaz: Auf jeden Fall. Andernfalls honoriert man ja auch nicht die Arbeit der Einrichtungen, die schon gute Bildungsergebnisse vorweisen können. Es wäre zudem kontraproduktiv für die öffentliche Wahrnehmung, wenn man den Bildungsanspruch nicht auch deutlich für die Kitas benennen würde. Wir müssen nur daran arbeiten, dass sie diesem Auftrag noch besser gerecht werden können. Das kann eine einzelne Kita alleine nicht schaffen. Viel mehr braucht es eine klare Linie von den Trägern , die auch gerne schon konkrete Zielvorgaben umfassen darf, welche Angebote in den Einrichtungen obligatorisch angeboten werden sollten. Es geht mir nicht darum, dass wir Kinder bereits in den Kitas ausgiebigen Tests unterziehen. Die Fachkräfte sollen nur dafür sensibilisiert werden, auf bestimmte Defizite bei den Kindern frühzeitig aufmerksam zu werden, um dann entsprechende Hilfen zu organisieren.
epd: Wie bewerten Sie die Forderung, wer in die Schule kommen will, muss Deutsch können?
Maaz: Ganz unabhängig davon, wer solche Forderungen erhebt, erscheint es zentral, dass Kinder beim Schuleintritt eine bestimmte, fest definierte Sprachkompetenz haben. Denn die Lehrkräfte in den Grundschulen sind nicht darauf vorbereitet, Schülerinnen und Schüler zu bilden, die die Instruktionssprache gar nicht oder nur schlecht verstehen. Daher macht die Erwartung, dass Grundschüler Deutsch können müssen, inhaltlich absolut Sinn. Und da sind eben die Kitas gefordert. Wie das erfolgreich umgesetzt werden kann, zeigt der Blick nach Hamburg. Dort gibt es für Viereinhalbjährige fast flächendeckend einen Sprachtest in den Kitas. Doch das ist nur der erste Schritt, um mit bestehenden Defiziten umzugehen. Wichtiger ist, dass bei Förderbedarf obligatorisch Hilfen angeboten werden, und zwar in den Kitas oder auch durch externe Bildungsträger. So gibt es eine realistische Chance, in den anderthalb Jahren bis zur Einschulung Entwicklungsrückstände aufzuholen.
epd: Das klingt danach, dass es in den Kitas künftig Fachkräfte gibt, die auch „Vorschullehrerinnen“ sein müssten …
Maaz: Ich denke, über die Qualifikation der Fachkräfte muss man nachdenken. Sicher müsste man für das nötige Profil spezielle Fort- und Weiterbildungsangebote organisieren - zum Beispiel im Bereich der Sprachförderung. Und auch die Ausbildungsinhalte sollten in den Blick genommen werden. Ein weiterer Ansatz sind unterschiedlich zusammengesetzte Kita-Teams, die breit aufgestellt sind und die es heute auch schon gibt. Man muss auch nicht alles selber machen, denn die Kooperation mit Bildungsträgern, Vereinen oder auch ehrenamtlich Tätigen bietet viele Möglichkeiten, das Knowhow unterschiedlicher Berufsgruppen zu nutzen. Das lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen. Aber wir brauchen erste Schritte in diese Richtung.
epd: Wie könnte das auch in Kitas in schwierigen sozialen Umfeldern gelingen, die ja schon oft mit vielen anderen Problemen zu kämpfen haben?
Maaz: Hier ist vor allem die lokale Seite, also die Kommunen, gefordert, aber auch Bund und Länder können ihren Beitrag leisten. Sie müssen überlegen, wie diese Kitas punktgenau unterstützt werden können. Ich schlage vor, für die Kitas in herausfordernden Sozialräumen eine spezielle Förderung zu schaffen. Anknüpfungspunkt könnte das bundesweite „Startchancenprogramms“ für Schulen in schwierigen Lagensein. Dieses Programm hat zwar das Ziel, dort zu unterstützen, wo die Mittel besonders gebraucht werden, es beginnt aber erst bei den Grundschulen. Für Kitas gibt es bislang nichts Vergleichbares. Wenn man den Namen „Startchancen“ wirklich ernst nimmt, dann muss der Start der Bildungsbiografie mitgedacht werden, was bedeutet, die Kitas einzubinden. Gibt es hier keine Fortschritte, dann werden wir beim nächsten Pisa-Vergleich nicht besser dastehen als heute.