Hameln (epd). Die Psychologin Katja Liebmann wünscht sich von Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen sich ein genaueres Hingucken bei Verhaltensauffälligkeiten von Jugendlichen. Liebmann arbeitet seit 2006 in der Jugendanstalt Hameln, seit drei Jahren leitet sie dort die Sozialtherapie. Mit ihr sprach Julia Pennigsdorf.
epd sozial: Frau Liebmann, was sagen Sie zu dem Eindruck, dass Jugendkriminalität und -gewalt zunehmen?
Katja Liebmann: Nach unserer Wahrnehmung nimmt die Jugendkriminalität quantitativ ab. Was zunimmt, ist die Brutalität, die Heftigkeit der Gewalttaten. Und die Taten werden zunehmend von jüngeren Tätern begangen. Die Zahl der sehr jungen Gefangenen in der Jugendanstalt Hameln steigt, ebenso wie psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten.
epd: Woran liegt das?
Liebmann: Da kann ich nur Vermutungen anstellen, belastbare Studien gibt es dazu bisher nicht. Ich denke, zum Teil sind es - insbesondere bei den sehr jungen Gefangenen - auch Nachwirkungen der Corona-Pandemie. Der Lockdown, all die Beschränkungen, der Verlust stabilisierender Alltagsstruktur, Freunde, Schule haben Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. Dazu kommt der Konsum digitaler Medien mit zum Teil verstörenden Inhalten, die einfach so mit einem Klick verfügbar sind. Der Anteil psychischer Erkrankungen hat zugenommen. Und natürlich spielt bei der Verunsicherung auch die krisenhafte Weltlage eine Rolle.
epd: Was brauchen junge Menschen in diesen Situationen, um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten?
Liebmann: Vor allem verlässliche Bezugspersonen. Doch das Gegenteil ist bei weit über 90 Prozent der Häftlinge, die wir hier in der JA Hameln haben, der Fall. Sie haben in ihren Herkunftsfamilien viel Instabilität erfahren: Gewalt, emotionale Vernachlässigung, Trennung, Sucht. Wenn das nicht aufgefangen wird, von anderen Bezugspersonen, Großeltern, Lehrern, Nachbarn, Trainern, wird es schwierig.
epd: Was kann die Gesellschaft insgesamt tun?
Liebmann: Es ist wichtig, dass wir bei verhaltensauffälligen jungen Menschen genau hinschauen. Probleme dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Denn eines ist klar: Jugendkriminalität und Gewalttaten kommen niemals aus dem Nichts. Sie haben immer eine Vorgeschichte.
epd: Laut Landgericht Hannover muss der 15-Jährige, der im Januar seinen Mitschüler ermordet hat und zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, seine Strafe in der Sozialtherapie der JA Hameln absitzen. Wie läuft das ab?
Liebmann: Sie werden verstehen, dass ich nichts zu konkreten Fälle sagen kann. Grundsätzlich ist es so, dass jeder Häftling in der JA Hameln zunächst das sogenannte „Diagnostik- und Planungsverfahren“ durchläuft. Wir schauen uns den Häftling, sein bisheriges Leben, genau an, Familie, Schule, Lebenssituation. Was gibt es für Probleme, Risiken, Auffälligkeiten? In strukturierten Interviews erforschen wir die gesamte bisherige Entwicklung. Auf dieser Basis wird dann ein individueller Erziehungs- und Förderplan erstellt, der alle vier Monate fortgeschrieben wird. Diese Anamnese kann mehrere Monate dauern, sie bildet eine wichtige Basis für die Behandlung. Im von Ihnen angesprochenen Fall ist das Diagnoseverfahren noch nicht abgeschlossen, die eigentliche Therapie hat also bisher nicht begonnen.