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Migration

Warum Menschen Deutschland verlassen




Andreas Abel zog es nach Schweden.
epd-bild/privat
Jährlich wandern mehr Deutsche aus als ausgewanderte Deutsche zurückkehren. Harald Helling zog es vor 20 Jahren nach Norwegen. Er erlebt, dass die Menschen dort "viel entspannter" sind. Die Caritas berät auswanderungswillige Menschen.

Frankfurt a. M. (epd). Als Hugo noch Grundschüler war, besuchte er einmal im Jahr für einen Monat seine Großmutter in Deutschland. Und er ging dort zur Schule. Bemerkenswert fand er, dass „es allen in der Klasse super wichtig war, gute Noten zu bekommen“, erzählt der 13-Jährige, der mit seinen Eltern und sechs Geschwistern in Norwegen lebt. Dort gibt es erst ab der achten Klasse Noten. „Überhaupt ist es für die Kinder in der Schule viel entspannter“, berichtet seine Mutter Korinna Helling.

Vor 20 Jahren nach Norwegen ausgewandert

Hugos Papa Harald wollte nicht die Arztpraxis seines Vaters übernehmen und zog vor 20 Jahren nach Norwegen. Geplant war, sagt der aus dem Harz stammende Geriater, in dem Land zwei Jahre mit seiner Frau und seinen damals zwei Kindern zu bleiben. „Doch dann blieben wir hängen.“ Harald Helling fand einen guten Job. Er integrierte sich rasch und gut, sagt er. „Vier Jahre war ich im Pfarrgemeinderat.“

Seine deutschen Wurzeln hat der Arzt nicht vergessen. Manchmal schnappt sich Harald Helling einen Gedichtband von Rilke. Und genießt die deutsche Sprache. Bei Besuchen in Deutschland, sagt er schmunzelnd, werde sein in der Ferne verklärtes Deutschlandbild regelmäßig korrigiert.

Beim letzten Aufenthalt erlebte Harald Helling, wie schnell man bei geringem Fehlverhalten im öffentlichen Raum eine giftige Bemerkung kassiert. In Norwegen sei das nicht so. Dort seien die Menschen wesentlich entspannter.

Auch wenn er manches in Deutschland vermisst, vor allem die Kultur, möchte Helling nicht wieder zurückkehren. Dazu bietet ihm Norwegen zu viele Vorteile. Nicht nur, was die Schule für die Kinder anbelangt. Beruflich hat er Benefits, an die in Deutschland nicht zu denken ist: Als er noch Oberarzt war, konnte er alle drei Jahre vier volle Monate neben dem regulären Urlaub bezahlt freinehmen. Inzwischen ist er Chef einer geriatrischen Abteilung. Alle knapp fünf Jahre erhält er mindestens vier Monate bezahlten Bildungsurlaub. „Den nächsten werde ich vermutlich in Südafrika verbringen“, hat er sich vorgenommen.

Caritas berät Auswanderungswillige

Viel ist dieser Tage von Zuwanderung nach Deutschland die Rede, auch, weil überall Fachkräfte fehlen. Dabei gerät aus dem Blick, dass auch viele Deutsche ihrer Heimat den Rücken kehren. Laut Statistischem Bundesamt zogen 2022 mehr als 268.000 Deutsche ins Ausland. Knapp 185.000 Deutsche kehrten zurück.

Der Wanderungssaldo, also die Differenz zwischen Zu- und Abwanderung, vergrößerte sich in den letzten Jahren. Demnach zogen 2022 rund 83.000 Deutsche mehr weg als zu. 2019 betrug der Saldo nur 57.600. „Bei Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit ist seit 2005 eine Nettoabwanderung festzustellen“, teilt das Statistische Bundesamt mit.

Oft gäben persönliche oder familiäre Gründe den Ausschlag dafür, dass Deutsche ihr Geburtsland verlassen, sagt Uta Koch vom Raphaelswerk. Der in Hamburg ansässige Fachverband der Caritas berät Menschen, die Deutschland dauerhaft oder befristet verlassen wollen. Er koordiniert zwei evangelische sowie sämtliche Caritas-Beratungsstellen des Raphaelswerks in der Bundesrepublik.

Bei Andreas Abel, ein ehemaliger Münchner, gab der Job den Ausschlag für den Länderwechsel. Vor zehn Jahren ging der Programmiersprachenforscher nach Göteborg. Eigentlich wäre er gern in München geblieben: „In Deutschland ist es aber sehr schwer, eine akademische Karriere zu machen, die nicht mit 40 in einer Sackgasse endet.“ Das sei in Schweden anders.

„Ich habe immer noch keine schöne Wohnung“

Besser als in Deutschland sind laut Andreas Abel auch die Verwaltungsabläufe organisiert: „Vieles ist in Schweden digital, die Verwaltung ist wirklich auf Zack.“ Ein Problem sei speziell in Göteborg die Wohnungsnot: „Ich habe immer noch keine schöne Wohnung.“ Und, noch ein Manko: Das Wetter sei insgesamt schlechter als in Bayern, der Sommer kurz.

Das Paradies findet sich wahrscheinlich nirgendwo. Viele Länder haben gegenüber Deutschland zwar Vorzüge, gleichzeitig aber auch Nachteile. „Meine Aufgabe besteht darin, ergebnisoffen auf die Unterschiede der Systeme hinzuweisen“, sagt Uta Witte von der Evangelischen Auslandsberatung in Hamburg.

Bis zu 15 Anfragen treffen wöchentlich in ihrer Beratungsstelle ein. Aktuell wollen der Auswanderungsberaterin zufolge viele Menschen nach Österreich, Dänemark oder Großbritannien. Das war nicht immer so. Auch Auswanderung ist dem Wandel unterworfen: „Vor wenigen Jahren war die Nachfrage nach Schweden sehr groß.“ Laut Statistischem Bundesamt leben inzwischen 29.000 Deutsche in Schweden.

Wegen einer OP zurück nach Deutschland

Witte berät nicht nur Auswanderer. Zu ihr kommen auch Menschen, die zurückkehren wollen. „Das wollen sie meist deshalb, weil ihre finanzielle oder gesundheitliche Situation prekär ist“, berichtet sie. Wer beispielsweise eine Operation machen lassen muss, stellt oft fest, dass die Chancen in Deutschland besser stehen als in der Wahlheimat. Das erkannte auch ein betagtes Paar, das vor langer Zeit nach Kanada ausgewandert war. Als es der Frau gesundheitlich immer schlechter ging, zogen die beiden unlängst nach Baden-Württemberg zurück.

„Kürzlich rief mich eine Familie an, die sich über das Heizkostengesetz beschwerte“, erzählt Uta Witte. Die Familie wohnt zur Miete. Die Angst, dass anstehende Heizungsbaumaßnahmen im Haus zu einer massiven Mieterhöhung führen könnten, ließ den Auswanderungswunsch wachsen: „Außerdem beklagten sie sich über die soziale Kälte im Land.“ Nach Norwegen sollte es gehen: „Allerdings war die Familie noch nie dort gewesen.“

Ob sie am Ende gegangen ist, weiß Uta Witte nicht. Sie berät immer so, dass die finanziellen, beruflichen und sozialen Konsequenzen einer Auswanderung klar werden. Dabei liege es ihr fern abzuschrecken. Aber Euphorie befeuern, das wolle sie auch nicht.

Pat Christ