Gütersloh, Berlin (epd). Die Bertelsmann Stiftung und das Deutsche Jugendinstitut (DJI) haben schlechte Nachrichten: Es fehlt massiv an Kita-Plätzen und an Plätzen in der Grundschulbetreuung. Nach Berechnungen der Stiftung fehlen fast 430.000 Kita-Plätze in Deutschland. Zudem würden mehr als zwei Drittel der Kinder in Gruppen mit einem „nicht kindgerechten“ Personalschlüssel betreut. Doch damit nicht genug: Am 29. November berichtete das DJI, dass bei der Ganztagesbetreuung in Grundschulen „weiterhin eine Lücke zwischen Platzangebot und Bedarf besteht und Angebote nicht für alle Eltern gleich zugänglich sind“.
Die Diakonie Deutschland konstatiert mit Blick auf die Kitas: „Es ist ein Armutszeugnis, dass zehn Jahre nach Einführung des Rechtsanspruchs auf frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung noch immer nicht für jedes Kind ein Platz in einer Kita angeboten werden kann“, sagte die Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, am 28. November in Berlin. „Eltern werden damit bei der Betreuungsarbeit weiter im Stich gelassen“, kritisierte Loheide. Das bedeute vor allem für Frauen schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. „Besonders aber fehlt gerade den Kindern, die es am nötigsten bräuchten, weil sie in Armut aufwachsen, der dringend notwendige Zugang zu Bildungschancen“, betonte sie.
In den westdeutschen Bundesländern gibt es laut dem „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ der Bertelsmann Stiftung 385.900 Kitaplätze zu wenig, in Ostdeutschland einschließlich Berlin fehlen 44.700 Plätze. Auch die Personalschlüssel unterschieden sich: Im Westen ist eine Vollzeit-Fachkraft rechnerisch für 3,4 unter Dreijährige beziehungsweise 7,7 ältere Kinder zuständig, im Osten für 5,4 beziehungsweise 10,5 Mädchen und Jungen. Für eine „kindgerechte Betreuung“ empfiehlt die Bertelsmann Stiftung eine Vollzeit-Fachkraft für drei Krippenkinder oder 7,5 Kindergartenkinder.
Aufgrund der zurückgehenden Kinderzahlen bestehe für die ostdeutschen Bundesländer jedoch die Chance, bis 2030 ihren Personalschlüssel an das Niveau im Westen anzugleichen und die Elternbedarfe zu erfüllen, hieß es. Die ostdeutschen Länder müssten „die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Kitas mehr Personal beschäftigen können“. In Westdeutschland können demnach Hamburg, Niedersachsen und eventuell Schleswig-Holstein bis 2030 die aktuellen Bedarfe decken und kindgerechte Personalschlüssel erreichen. Im Westen müsse vor allem die Zahl der Plätze ausgebaut werden.
Der Bremer Kita-Experte Carsten Schlepper sprach sich für neue Wege in der Kindertagesbetreuung aus. „Wir müssen erweiterte Personalkonzepte umsetzen und differenzierter mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz umgehen“, sagte der Bremer Vorstandsvorsitzende der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Es braucht neue Ansätze, die über das Bestehende hinausgehen, um die Kindertagesbetreuung in eine gute Zukunft zu führen“, sagte Schlepper angesichts der Lücken, die sich der Studie zufolge erst 2030 „mit Anstrengungen“ verringern ließen.
„Wir müssen andere Professionen für Bildungsangebote wie kreatives Gestalten, ästhetische Bildung, Bewegung und Musik einsetzen, auch ungelernte Assistenzkräfte zur Unterstützung und Entlastung bei Routineaufgaben“, erklärte Schlepper. Überdies müsse in den nächsten Jahren differenzierter zwischen dem unmittelbaren Rechtsanspruch für alle Kinder und dem mittelbaren Rechtsanspruch für ein Angebot zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterschieden werden: „Alle Kinder benötigen eine Grundleistung von vier bis sechs Stunden täglich. Einige Familien benötigen zusätzliche Betreuungszeiten, die gegebenenfalls nicht mehr durchgängig als Bildungsangebot ausgewiesen sind.“
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, erklärte, dass die Städte sich „mit großem Engagement für den Ausbau der Kinderbetreuung und die Ausbildung von pädagogischen Fachkräften eingesetzt“ hätten. Dennoch gebe es einen erheblichen Mangel. „Sicher ist aber, dass wir mehr Plätze brauchen, um den Bedarf heute und in Zukunft abzudecken. Mit dem Fachkräftemangel und dem unterschiedlichen Stand des Ausbaus in den Bundesländern wird es schwer, in allen Kommunen die Rechtsansprüche für Kita- und Grundschulkinder im Jahr 2030 zu erfüllen“, so der Geschäftsführer.
Eine Stellschraube seien zusätzliche Ausbildungskapazitäten, für die die Länder sorgen könnten. Eine Chance bietet sich laut Dedy auch durch Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger und weitere Beschäftigte: zum Beispiel Kinderpflegerinnen und -pfleger, Verwaltungs- und Haushaltskräfte: „Dabei muss selbstverständlich die Qualität der Erziehung und Betreuung erhalten bleiben.“
Die Gewerkschaft ver.di forderte, dass sich das Kanzleramt dem Thema annehmen solle. Auch wenn im föderalen System die Bildung Ländersache sei, dürften Platzangebot, Öffnungszeiten, Qualität der frühkindlichen Bildung und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten nicht vom Wohn- beziehungsweise Arbeitsort abhängen, sagte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle. Das Bundeskanzleramt müsse dringend einen bundesweiten Kita-Gipfel unter Beteiligung der Länder und Kommunen veranstalten. Bund, Länder und Kommunen seien gleichermaßen in der Pflicht, Abhilfe zu schaffen, einen Maßnahmenkatalog für die Stabilisierung des bestehenden Kita-Systems und seines zukünftigen Ausbaus zu entwickeln.
Das Deutsche Jugendinstitut verwies auf die neuen Daten seiner Kinderbetreuungsstudie (KiBS). Die zeigten, dass weiterhin eine Lücke zwischen Platzangebot und Bedarf bei der Betreuung von Grundschülern besteht. Ab 2026 gilt ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagesplatz für Erstklässler, der bis 2030 auf alle Grundschulkinder ausgedehnt wird. „Mit den neuesten Daten aus 2022 kann gezeigt werden, dass der Bedarf der Eltern an außerunterrichtlicher Bildung und Betreuung für ihre Grundschulkinder weiterhin nicht durch die vorhandenen Angebote gedeckt werden kann, dass aber ein Bedarf der Eltern auch nicht immer gleich ein Ganztagsbedarf ist“, jeißt es in der Erhebung.
Fünf Prozent aller Grundschulkinder besuchten kein außerunterrichtliches Angebot, obwohl die Eltern einen Bedarf hatten. „Eine solche Lücke zeigt sich in nahezu allen Bundesländern. Weitere drei Prozent nutzten zwar ein Angebot, dessen Umfang war jedoch mindestens fünf Stunden pro Woche geringer als die Eltern benötigten.“ Um Familien ein bedarfsgerechtes Angebot unterbreiten zu können, seien eitere Ausbaubemühungen nötig.
Bei vorhandenem Bedarf gelinge es Familien mit Migrationshintergrund sowie solchen mit niedrigerer Bildung immer seltener, einen Betreuungsplatz zu bekommen als Familien ohne Migrationshintergrund oder mit höherer Bildung. Fazit der Experten: „Das Ziel, die Teilhabe für alle Kinder zu verbessern und so zu gleichwertigen Lebensbedingungen beizutragen, wird aktuell nicht erfüllt.“