Prien am Chiemsee, Spremberg (epd). In den letzten Jahren hatten sich bei Sven Steinbach (Name geändert) viele private Sorgen angehäuft. Die Trennung seiner Eltern, Probleme in der Schule, eine schwere Erkrankung seiner Großmutter, die eine enge Bezugsperson für ihn war. Zudem hatte der heute 20-Jährige keinen Freundeskreis, auf den er sich stützen konnte. Abwertende Kommentare seines damaligen Fußballtrainers über seine Figur nagten zusätzlich am Selbstbewusstsein des damaligen Jugendlichen.
Um sich abzulenken, fing er eine Diät an, beschäftigte sich mit Ernährung und legte zusätzliche Sporteinheiten ein. Sein Verhalten wurde immer exzessiver, seine Diät immer strikter. „Den Sommer 2019 verbrachte ich damit, mich mit Nährwerten zu beschäftigen. Ich folgte vielen männlichen Fitness-Influencern auf Instagram“, erinnert sich Steinbach.Für den Schüler begann eine Abwärtsspirale, die in der Klinik endete. Seine Diagnose: Anorexia nervosa, Magersucht.
Majdy Abu Bakr, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Spremberg in Brandenburg, sagt: „Männer, die an Magersucht leiden, schämen sich oft dafür, da die Krankheit nach wie vor als Mädchenkrankheit gilt.“ Das führe dazu, dass betroffene Männer zu spät oder gar nicht Hilfe suchten.
Auch das Umfeld erkennt die Erkrankung häufig nicht. Dabei sind Bezugspersonen wichtig. „Kommentare und Hänseleien können dazu führen, dass sich der Betroffene noch mehr isoliert und dadurch weiter in die Sucht abrutscht“, warnt der Psychiater. Er rät zu einem verständnisvollen Umgang und einer offenen Ansprache.
Laut Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erkranken von 1.000 Männern etwa zwei im Laufe ihres Lebens an einer Magersucht. Bei Frauen sind es siebenmal so viele.
Die Erkrankung selbst sei bei männlichen und weiblichen Betroffenen sehr ähnlich. Auch die Behandlung sei gleich. „Der wichtigste Teil ist die psychotherapeutische Komponente. Viele Magersüchtige können über lange Zeit noch nicht akzeptieren, dass sie krank sind“, sagt Abu Bakr. Meist gehe es nicht ums Essen an sich, sondern um darunterliegende Probleme. „Die Erkrankung tritt meistens in einer Zeit des Umbruchs auf. Das kann eine Trennung sein, meistens jedoch, wie auch in diesem Fall, die Pubertät an sich, die gravierende hormonelle und soziale Veränderungen mit sich bringt“, erklärt der Facharzt für Psychiatrie.
Das Ziel der ärztlichen Behandlung sei die Rückkehr zu einem gesunden Essverhalten. „Wir versuchen, gemeinsam mit den Patienten andere, gesündere Kompensierungsstrategien zu finden und auf bestehende Konflikte oder familiäre Kommunikationsprobleme einzugehen“, erklärt Abu Bakr. Ein stationärer Aufenthalt in einer spezialisierten Klinik für Essstörungen könne Betroffenen hierbei am besten helfen.
Sven Steinbach versuchte zunächst, allein mit seiner Erkrankung umzugehen. Dann entschied er sich doch für eine stationäre Behandlung. „Ich wollte so weit weg von zu Hause und meinen Problemen wie möglich“, sagt der gebürtige Essener. Vom September 2022 bis April 2023 war er in der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee.
Hier behandelt Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck, seit 14 Jahren Menschen mit Essstörungen. „Bei allen psychischen Erkrankungen gilt: Die Hemmschwelle, sich Hilfe zu suchen, liegt bei Männern deutlich höher“, sagt Voderholzer.
Bei Magersucht sei die Scham besonders groß. "Hier kommt noch die Selbststigmatisierung hinzu, man habe eine 'Mädchenkrankheit', erklärt der Psychiater. Voderholzer geht davon aus, dass die Dunkelziffer an anorektischen Männern etwa doppelt so hoch ist, wie aus den offiziellen Zahlen hervorgeht.
Fälle wie die von Sven Steinbach seien mustergültig, sagt Voderholzer. „Meistens ist eine starke Belastung oder eine Lebenserfahrung, die mit Verunsicherung verbunden ist, der Auslöser der Erkrankung. Das kann die Trennung der Eltern sein, der Verlust eines geliebten Menschen, Mobbing oder auch Ausnahmesituationen wie die Corona-Pandemie“, erklärt der Psychiater. Die Mechanismen hinter der Krankheit seien sehr komplex. Es gehe um weitaus mehr als nur dem Wunsch, dünn zu sein.
Steinbach ist froh, sich für einen stationären Aufenthalt entschieden zu haben. „Auf meine Zeit in der Schön Klinik blicke ich mit einem guten Gefühl zurück“, sagt er. Gerade am Anfang sei es ihm jedoch schwergefallen, sich an das Konzept der Klinik und die Vorgaben zu halten.
Nach seiner Entlassung musste er zunächst zurückfinden in den Alltag. „Meine ersten Tage zuhause waren überwiegend gut“, sagt er. Er habe die Zeit mit Familie und Freunden genossen, die er lange nicht gesehen hatte. „Ich merkte jedoch, dass die Gedanken über Essen und Bewegung in manchen Momenten stärker waren als in der Klinik“, gibt er zu. „Bis jetzt habe ich es aber gut geschafft, diesen Gedanken nicht nachzugeben.“
Steinbach will die Zeit nach der Klinik für einen Neuanfang nutzen. Im nächsten Jahr möchte er eine Ausbildung beginnen und dann auf eigenen Beinen stehen.