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Armut

Obdachlosen-Seelsorger: "Du machst dich seelisch nackt"




Obdachlosen-Seelsorger Harald Schröder
epd-bild/Dieter Sell
Die Zahl der obdach- und wohnungslosen Menschen in Deutschland steigt. In den Innenstädten bitten sie in Kälte und Nässe um eine Spende. Das Betteln sei mit großer Scham verbunden, sagt der Bremer Obdachlosenseelsorger Harald Schröder im Interview.

Bremen (epd). Betteln sei oft mehr als nur ein Job, sagt Seelsorger Harald Schröder. Es strukturiere auch den Tag der Betroffenen. Ein Gespräch mit dem evangelischen Diakon über die Armut, die Konkurrenz beim Betteln, ungebetene Auflagen von Spendern und würdevollen Gesprächen. Die Fragen stellte Dieter Sell.

epd sozial: Herr Schröder, warum betteln Menschen auf der Straße überhaupt? Reicht die soziale Absicherung nicht?

Harald Schröder: Tatsächlich ist ein Großteil dieser Menschen unversorgt und in Not, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Viele beziehen kein Bürgergeld. Das trifft beispielsweise auf einen Großteil der europäischen Mitbürger zu, die hier sind und die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Andere sind gesperrt oder nicht in der Lage, Bürgergeld zu beantragen, weil Dokumente fehlen. Manche schaffen es auch psychisch nicht.

epd: Ist Betteln gelegentlich auch eine Art Job?

Schröder: Für manche. Für andere ist es auch etwas, was den Tag strukturiert. Sie sind überhaupt froh, wenn sie einen Platz hast, an dem sie sen können. Es gibt ja kaum Aufenthaltsmöglichkeiten, gerade, wenn wir jetzt an das schlechte Wetter denken. Und wenn man dann einen Ort hat, der auch Witterungsschutz bietet, legitimiert das das dort-sein mit Gaben-Bitten oder mit Betteln. Denn aus den Notunterkünften müssen die Leute teilweise vor 9 Uhr raus und können erst nach 17 Uhr wieder rein. Mahlzeiten, Heißgetränke oder Sanitäranlagen muss man sich tagsüber anders organisieren. Jemand, der draußen ist, kann ja im Grunde nur mit fertigen Dingen etwas anfangen. Etwas kochen, das geht nicht. Aufbewahren auch nicht. Du kriegst es in die Hand und musst es gleich verbrauchen. Deshalb: So ein Leben auf der Straße ist teuer.

epd: Betteln kostet Überwindung, so viel ist klar ...

Schröder: Das ist mit enormer Scham verbunden, du machst dich seelisch nackt. Deshalb treffen wir oft auf Menschen, die uns gebückt begegnen. Damit du ihnen nicht noch in die Augen, in die Seele schauen kannst, weil das für die Bettelnden nicht auszuhalten ist. Und wenn einige osteuropäische Frauen dann scheinbar devot den Kopf auf den Asphalt senken, ist das nicht unbedingt eine Masche. Sie halten es kaum aus, haben aber gar keine andere Möglichkeit - und betäuben sich manchmal mit Alkohol und anderen Drogen, um es doch zu schaffen.

epd: Gerade an aggressivem Betteln, wenn Passanten bedrängt, wenn Wunden vorgezeigt oder Kinder eingesetzt werden, gibt es viel Kritik.

Schröder: Wenn Sie damit die Bettelmafia meinen, ja, die gibt es. Aber das sind nur wenige Menschen. Ein großer Teil der Leute sitzt meist in sich zusammengesunken auf der Straße, neben ihnen eine Schale oder ein Becher. Dieses stille Betteln macht meiner Beobachtung nach den wesentlich größeren Teil aus. Andere versuchen es offensiver und sprechen Menschen an. Um Geld bitten ist ja auch ein hart umkämpfter Markt auf der Straße. Manche werden dabei kreativ, tingeln beispielsweise mit ihren Hundeskulpturen aus Sand durch die Städte. Die bieten dann eine Leistung an, auch die, die eine Straßenzeitung verkaufen.

epd: Was bedeutet es denn, wenn sie dann nur Kupfer bekommen, Ein-, Zwei- und maximal Fünf-Cent-Münzen?

Schröder: Tja, da gibt man dann 13 Cent in Kupfer und fühlt sich wie der Retter der Obdachlosen. Für die ist es aber schwierig, weil sie es nicht einlösen können, wenn sie kein Konto haben. Wenn das Geld nass ist - und das ist es oft auf der Straße -, kommt die Zählmaschine aus dem Takt. Und in Geschäften wird Kupfer oft gar nicht erst angenommen. Wenn doch, dann nur einmal mit dem Hinweis: Das nächste Mal mindestens in Messing. Es gibt mehrere obdachlose Menschen, die deshalb große Bestände von Kupfergeld mit sich tragen und es nicht einsetzen können. Legendär ist in Bremen ein Mann aus Österreich, der es aufgrund seiner psychischen Situation nicht schafft, in Sozialleistung zu kommen und der 35 Kilo Kupfer gesammelt hat. Das wird er einfach nicht los.

epd: Viele Menschen würden gerne etwas spenden, fühlen sich aber unsicher. Wem gebe ich was und wie viel? Haben Sie eine Idee?

Schröder: Ich sage: Da, wo das Herz aufgeht, wo das Gefühl 'ja' sagt, da gebe ich etwas. Nicht gerechtfertigt sind dann aber Auflagen nach dem Motto: Bitte nicht vertrinken. Und was auch nicht geht: Ungefragt jemandem einen Burger vorbeibringen, Pommes, Glühwein. Vielleicht mag er oder sie das gar nicht, verträgt es nicht oder kann es nicht beißen, weil die Zähne kaputt sind. Ich kann ein Angebot machen, ja: Ich hol mir gleich einen Kaffee, darf ich Ihnen einen mitbringen? Dann kann die Person darauf antworten. Aber ungefragt etwas zuschieben, das ist ein No-Go.

epd: Wie nehme ich überhaupt am besten mit den Menschen Kontakt auf, die auf der Straße sitzen und betteln?

Schröder: Ich muss auf Augenhöhe mit ihnen sprechen. Also runter, in die Knie. Sonst ist das ein oben-unten-Verhältnis. Deshalb gehen auch Anfassen und Antippen gar nicht. Zuhören, wenn es sich ergibt und die Zeit es erlaubt, das wäre schön. Zugleich darf man natürlich emotionale Distanz wahren. Es geht darum, die Würde der Person zu respektieren. Vor uns sitzt ein Mensch.

epd: Warum reagieren manche Leute überhaupt unangenehm berührt auf bettelnde Menschen?

Schröder: Da können viele Gründe eine Rolle spielen. Manche fragen sich: Was macht der hier, der könnte doch arbeiten? Und bettelnde Menschen lassen die Armut sichtbar werden, die in unserer Gesellschaft oft übersehen wird. Not tritt vor die eigenen Augen und für einen Moment ins eigene Leben. Vielleicht spielt dann auch die unbewusste Angst eine Rolle, mich könnte eine Lebenskrise ebenso aus der Bahn werfen.