sozial-Politik

Ausbildung

Interview

Institutspräsident: Firmen müssen Ansprüche bei Azubis herunterfahren




Friedrich Hubert Esser
epd-bild/Bundesinstitut für Berufsbildung
2,5 Millionen junge Erwachsene in Deutschland hatten 2021 keinen Berufsabschluss. Das müsse sich ändern, fordert Friedrich Hubert Esser, Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung. Er fordert "ein Angebot für alle jungen Menschen, sich beruflich zu qualifizieren".

Bonn (epd). Friedrich Hubert Esser fordert mehr Anstrengungen gegen den Fachkräftemangel. „Wir müssen alle Ressourcen nutzen und sowohl inländische junge Menschen qualifizieren als auch für mehr Zuwanderung sorgen. Sonst werden sich künftig die Probleme der Unternehmen, genügend Personal zu finden, nicht lösen lassen“, sagte der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) im Interview. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Professor Esser, wer in der Ausbildung gescheitert ist oder wer erst gar keine Lehrstelle findet, landet meist im Übergangssystem. Warum gelingt es der Politik nicht, die Zahlen der dort verharrenden jungen Menschen nennenswert zu senken?

Hubert Esser: Kann ich, bevor ich die Frage beantworte, erklären, warum ich mich an dem Begriff „Übergangssystem“ stoße?

epd: Gerne. Aber der Begriff ist doch eingeführt, wird schon lange verwendet und steht auch im Nationalen Bildungsbericht ...

Esser: Ja, das stimmt. Die Bezeichnung ist aber unpassend, weil damit eine Negativkonnotation verbunden ist. Ich spreche, und das tue ich nicht alleine, lieber von einem Chancenverbesserungssystem. Das klingt zwar sperriger, aber ich meine, damit verbindet sich ein positiverer Akzent. Denn damit richtet man den Blick bewusst nach vorne. Und es wird auch besser beschrieben, um was es inhaltlich geht, nämlich Bildungsdefizite aufzuarbeiten, die verhindern, eine passende Lehrstelle im dualen System zu finden - also zum Beispiel durch gezielte Angebote fehlende Schulabschlüsse nachzuholen. Oder in Praktika in Unternehmen herauszufinden, wohin der berufliche Weg denn eigentlich führen soll.

epd: Warum finden so viele Menschen nur über Umwege oder keine Lehrstelle?

Esser: Das hat mit den Mechanismen des Marktes zu tun. Wenn über Jahre genügend junge Leute für die Ausbildung da waren, konnten Firmen sich aussuchen, wem sie eine Lehrstelle anbieten. Das waren in aller Regel diejenigen mit besseren Schulzeugnissen. Folglich mussten sie sich auch nicht sonderlich bemühen, Nachwuchs zu finden. Der kam quasi von selbst, auch ohne wesentlichen eigenen Input, zumindest in den meisten Branchen der Wirtschaft. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die Schulabgänger und -abgängerinnen von heute sind in einer besseren Marktposition, und die Firmen müssen sich dem Wettbewerb um weniger Menschen stellen, die eine Ausbildung machen wollen.

epd: Genau deshalb müsste es aber einfacher werden für weniger gut Qualifizierte, eine Lehrstelle zu finden ...

Esser: Das stimmt. Die Unternehmen müssen sich rühren, und viele tun das auch schon. Für sie wird die Lage prekärer, denn der Fachkräftemangel wird vermehrt zum Betriebsrisiko in vielen Branchen. Die Firmen müssen, und das wissen sie auch, toleranter sein und ihre hohen Ansprüche aus der Vergangenheit herunterfahren. Aber längst nicht alle investieren schon gezielt in die eigene Ausbildung. Das ist aber dringend nötig. Denn junge Leute mit einem schwächeren Leistungsniveau verursachen Aufwand und Kosten für Nachschulungen oder Nachhilfe während der dualen Ausbildung.

epd: Also gibt es bereits ein Umdenken in den Betrieben, aber auch noch Luft nach oben?

Esser: Ja. Aber es ist mir wichtig zu erwähnen, dass nicht nur die einzelnen Unternehmen gefordert sind, die Werbung um den Nachwuchs voranzutreiben und zu professionalisieren. Unternehmen, Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Innungen und Kreishandwerkerschaften müssen unbedingt gemeinsam agieren und sich des Themas Nachwuchsgewinnung annehmen. Denn gerade Kleinst- und Kleinbetriebe sind da oft überfordert und auf Hilfe angewiesen.

epd: Wie bringt man Schulabgänger und ausbildende Unternehmen angesichts von Zehntausenden unbesetzten Lehrstellen besser zusammen?

Esser: Wir müssen frühzeitig in der Schule ansetzen. Schulabgängern und -abgängerinnen fehlen häufig die nötigen Informationen über Wege in die Ausbildung, über die Voraussetzungen und die späteren Möglichkeiten weiterer beruflicher Qualifikation. Die Berufs- und Studienorientierung muss daher an allen Schulformen praxisnäher werden. Das tragen wir als Bundesinstitut für Berufsbildung auch an die Bundesregierung heran.

epd: Was genau raten Sie?

Esser: Es empfiehlt sich, Schulen auch in die Netzwerke von Betrieben, Unternehmensverbänden, Kreishandwerkerschaften und Kammern zu integrieren. Auf dieser Schiene lassen sich dann gut Praktikumsplätze in der Region organisieren und anbieten. Das ist die beste Form, eine praxisorientierte Berufsorientierung zu ermöglichen. Oder man bietet Ausbildungsmessen an und nutzt auch Plattformen des Matchings im Internet - Stichwort Digitalisierung. All das muss das Ziel haben, praxisnah und verbindlich zu informieren.

epd: Die Bundesregierung will mit dem modifizierten Einwanderungsgesetz den Mangel an Fachkräften beheben. Ist sie da auf dem richtigen Weg, oder sollte man sich nicht besser um die vielen Menschen kümmern, die, und jetzt nehme ich Ihren Begriff, das „Chancenverbesserungssystem“ nutzen?

Esser: Das ist für mich keine Frage von Entweder-oder. Beide Optionen darf man nicht gegeneinander ausspielen. Beides ist wichtig für den deutschen Arbeitsmarkt - zum einen die Frage, wie sich inländische Potenziale gezielt heben lassen, und dann die verbesserte, vor allem vereinfachte Fachkräftesicherung durch Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen. Wir müssen alle Ressourcen nutzen und sowohl inländische junge Menschen qualifizieren als auch für mehr Zuwanderung sorgen. Sonst werden sich künftig die Probleme der Unternehmen, genügend Personal zu finden, nicht lösen lassen. Erst recht nicht, wenn die Generation der Babyboomer in einigen Jahren in Rente geht.

epd: Kommen wir zum Schluss noch auf die neue Ausbildungsgarantie zu sprechen. Ist der Begriff nicht irreführend? Es geht ja nicht um ein Recht auf eine duale Ausbildung ...

Esser: Ja, ich habe Zweifel, ob der Begriff richtig gewählt ist. Der Begriff hat eine Geschichte. Denn es wurde vor Jahren in der Politik breit diskutiert, ob die Unternehmen gesetzlich verpflichtet werden sollen, Ausbildungsplätze anzubieten. Das ist zwar längst Geschichte, aber der Begriff wurde beibehalten. Positiv an der neuen Regelung ist jedoch, dass sie ein starkes politisches Zeichen setzt. Es geht um den Schulterschluss aller Stakeholder, das Mögliche zu unternehmen, damit kein junger Mensch chancenlos zurückbleibt. Alle jungen Menschen sollen ein Angebot bekommen, sich beruflich zu qualifizieren, optimalerweise im Rahmen einer Berufsausbildung. Der Wirtschaftsstandort Deutschland kann es sich nicht leisten, Zehntausende junge Leute unqualifiziert zu lassen. Wir müssen alles dafür tun, dass die Zahl von Menschen ohne Berufsabschluss sinkt, und zwar schnell.



Mehr zum Thema

Gute Chancen auf einen Ausbildungsplatz trotz schlechter Schulnoten

Ausbildungsbetriebe suchen händeringend nach Azubis. Um die unbesetzten Stellen zu belegen, stellen Betriebe nun auch Schulabgänger mit schlechten Noten ein. Das kann Vorteile für beide Seiten haben.

» Hier weiterlesen