sozial-Branche

Diakonie-Geschichte

200 Jahre Paulinenpflege: "Biotop von Zuversicht und Hoffnung"




Kinder in einem Heim der Paulinenpflege (um 1923)
epd-bild/Paulinenpflege Winnenden
Im August 1823 begann die Geschichte der Paulinenpflege in Winnenden mit dem Umzug von elf Kindern aus Familienpflegestellen in ein "Rettungshaus". Drei von ihnen waren taubstumm. Heute hat die Paulinenpflege zahlreiche Arbeitszweige.

Winnenden (epd). Am Anfang stand die Idee des Winnender evangelischen Pfarrers Friedrich Jakob Heim für ein „Rettungshaus“ für verwahrloste Kinder. Daraus ist in 200 Jahren eine bedeutende diakonische Einrichtung gewachsen, die „vielfältig und ineinander verwoben“ zehn operative Arbeitsbereiche pflegt, wie Hauptgeschäftsführer Andreas Maurer erklärt. Er nennt etwa die Schul- und Berufsausbildung für Hörgeschädigte, die Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die Reha-Werkstatt für Menschen mit psychischen Erkrankungen und die vielfältigen Hilfen für autistische Menschen.

Seit 1823 hat sich das Werk in Winnenden im heutigen Rems-Murr-Kreis ausgedehnt und verzweigt. Startete Friedrich Jakob Heim mit elf Kindern, von denen drei taubstumm waren, so sind es heute rund 4.000 Menschen, die von über 1.500 Mitarbeitenden Unterstützung erhalten. Die wechselhafte Geschichte des Werkes hat der Theologe und Journalist Dietrich Hub in dem Buch mit dem Titel „Ein Gotteswerk in Menschenhand“ auf 420 Seiten festgehalten.

„Beweinenswürdige Kinder“

Es fing 1822 an, als Pfarrer Heim an seine Winnender Gemeindemitglieder einen Aufruf unter der Überschrift „Bitte an Menschenfreunde“ richtete. Ihm war die „ziemliche Menge“ an „beweinenswürdigen Kindern“ aufgefallen, die von ihren Eltern und Pflegern unter anderem „zum Bettel gemissbraucht“ würden. „Diese armen Geschöpfe können nichts dafür, sie werden, ohne selbst ihr Elend recht zu verstehen, ins Elend hineingerissen, wenn sich niemand ihrer annimmt“, so der Geistliche - und bat die Gemeinde, eine „Kinderversorgungsanstalt“ finanziell zu unterstützen.

Im Juli 1823 hatte er das doppelte Jahresgehalt eines künftigen Hausvaters im „Rettungshaus“ beisammen, nämlich 470 Gulden. Das Winnender Armenhaus wurde angemietet und umgebaut, und am 12. August 1823 zogen die ersten fünf Jungen und fünf Mädchen, die zuvor in „Kostfamilien“ untergebracht waren, mit einem Lehrer in das Haus ein. Wenige Tage später kam ein weiteres Kind aus Backnang hinzu. Die Mädchen und Jungen erhielten Schulunterricht, von Anfang auch die drei gehörlosen unter ihnen. Ihr Hausvater, Pfarrer Gottlieb Schmid, hatte vorher eigens an der Taubstummenanstalt Schwäbisch Gmünd hospitiert.

Unter anderem die württembergische Königin Pauline - die dann Namensgeberin wurde - engagierte sich finanziell. Im Herbst 1828 besuchte sie die Paulinenpflege persönlich.

Etliche Krisen in der wechselhaften Geschichte

Das Paulinenpflege-Archiv hat nicht nur Wachsen und Gedeihen der Einrichtung dokumentiert, sondern auch die Probleme, seien sie finanziell, organisatorisch oder ethisch gewesen. 1833 meldete Heim etwa an die Zentralleitung des württembergischen Wohltätigkeitsvereins, dass sich ein Lehrer sexuell an weiblichen Zöglingen vergangen habe. Das wurde zwar nicht öffentlich, die betroffenen Mädchen wurden in Pflegefamilien gegeben. Der Lehrer wurde jedoch verhaftet, und auch Hausvater Schmid solle seinen Hut nehmen, empfahl der Präsident des Wohltätigkeitsvereins. Hub übergeht im Jubiläumsbuch diese Episode ebenso wenig wie die Themen Gewalt in der Erziehung oder Zwangssterilisierungen in der Nazizeit.

Die Paulinenpflege hat sich, das belegt Hub, in ihrer Geschichte auch mit ihren Wunden auseinandergesetzt. Gleichzeitig arbeiteten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinsam mit den Menschen, die ihnen anvertraut waren, über die Jahrzehnte daran, Heims Leitspruch „Gottes Werk in Menschenhand“ in die Tat umzusetzen. Das Angebot an Berufsausbildungen für Taube und Hörgeschädigte wurde erweitert, das Berufsbildungswerk entstand, Internate wurden ausgebaut, der Biobauernhof Paulinenhof wuchs, aus dem Kinderdorf der Paulinenpflege wurde ein Jugendhilfeverbund. Weit über die Region hinaus arbeitet die Paulinenpflege an Hilfen für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, und man kann sich dort auch als Hörender in Gebärdensprache ausbilden lassen.

Bereits vor 25 Jahren sagte die damalige baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU), die Paulinenpflege sei ein „Biotop von Zuversicht und Hoffnung“. Hier äußere sich christlicher Glaube, der sich der Aufgaben in der Welt annehme. Damit umriss sie exakt die Vision des Paulinenpflege-Gründers Friedrich Jakob Heim.

Susanne Müller