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Behinderung

Interview

Bildungsforscher: Zehn Jahre Inklusion sind keine Erfolgsgeschichte




Rolf Werning
epd-bild/Roland Schneider Photographie
Auch zehn Jahre nach dem Start des gemeinsamen Unterrichtes für alle ist die Inklusion an den Schulen in Niedersachsen nach Ansicht des Bildungsforschers Rolf Wernig noch nicht wirklich umgesetzt.

Hannover (epd). Der hannoversche Erziehungswissenschaftler Rolf Wernig sieht zehn Jahre nach dem Start der Inklusion an den Schulen in Niedersachsen noch viele Baustellen bei der Umsetzung des gemeinsamen Unterrichtes für alle Mädchen und Jungen. Zu oft gehe es allein darum, an welchen Schulen Kinder mit besonderem Förderbedarf am besten aufgehoben seien, sagte der Professor für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover im Interview. Doch eine gelingende Inklusion stehe für viel mehr. Mit Wernig sprach Karen Miether.

epd sozial: Herr Werning, vor zehn Jahren wurde damit begonnen, die inklusive Schule in Niedersachsen einzuführen. Schülerinnen und Schüler sollen gemeinsam lernen, unabhängig davon, ob sie zum Beispiel durch eine Behinderung einen besonderen Förderbedarf haben. Ist das eine Erfolgsgeschichte?

Rolf Werning: Nein. Das sagen allein schon die Zahlen aus. Seit 1999 ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die auf einer Förderschule unterrichtet werden, von 3,9 Prozent auf 3,3 Prozent gesunken. Das ist sehr wenig. Wir haben also keine Umstellung auf ein inklusives Schulsystem erreicht. Die Förderschulen existieren nach wie vor. Wir haben sogar in einigen Förderschwerpunkten mehr Kinder in Förderschulen als noch im Jahr 2000. Nur bei den Förderschulen mit dem Schwerpunkt „Lernen“ gehen die Schülerzahlen deutlich zurück.

epd: Das ist kein Wunder, denn diese Förderschulen nehmen schon länger keine Schüler mehr auf. Sie sollen bis 2028 ganz auslaufen. Wie sehen Sie das?

Werning: Ich bin überzeugt, dass es diese Art der Förderschulen nicht mehr geben sollte. Wir wissen aus einer Vielzahl von Studien, dass in gemischten Gruppen die Leistungen von lernschwächeren Schülerinnen und Schülern besser werden, ohne dass leistungsstarke Kinder und Jugendliche beeinträchtigt werden. Wichtig dabei ist, dass die Zusammensetzung der Lerngruppe stimmt. Eine deutschlandweite Studie hat Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Förderbedarfen verglichen, von denen die einen an Grundschulen und die anderen an Förderschulen unterrichtet wurden. Am Ende der vierten Klasse betrug der Entwicklungsvorteil derjenigen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“, die auf die Grundschule gingen, rund ein Jahr.

epd: Dennoch wünschen sich zum Teil auch Eltern den Erhalt der Förderschule „Lernen“. Können Sie das nachvollziehen?

Werning: Was den Grundschulbereich angeht, habe ich dafür kein Verständnis. Da kommen vier Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf 100 Kinder. Das ist gut zu händeln. Wir haben mit der Grundschule eine Schule für alle Kinder, die sich auch gut darauf einstellen kann, alle Kinder zu unterrichten.

epd: Und später?

Werning: In der Sekundarstufe I gibt es in Niedersachsen mehr Schulformen als sonst in Deutschland und die Inklusionsquoten in diesen Schulformen sind sehr unterschiedlich. In Niedersachsen haben wir 23,5 Prozent der Kinder mit Förderbedarf an Hauptschulen, aber nur 0,7 Prozent an Gymnasien. Wir integrieren also Kinder mit besonderem Förderbedarf in die Schulform, die eh schon im Vergleich lernschwächere Schüler hat. Das führt zu schlechteren Bedingungen. In der Bildungsforschung sprechen wir von einem negativen Kompositionseffekt in den Lerngruppen. Der tritt dann ein, wenn die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler lernschwächer sind und/oder einen besonderen pädagogischen Unterstützungsbedarf haben. 2021 hatten in den Oberschulen in der Stadt Hannover 47 Prozent der Fünftklässler einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Hier entstehen „maskierte“ Förderschulen, aber es entsteht keine inklusive Pädagogik.

epd: Wie sollte es stattdessen sein?

Werning: Für gute inklusive Förderung bräuchte man Schulen, in denen eine gute Mischung vorhanden ist. Wenn hinreichend viele leistungsstärkere Kinder in der Lerngruppe sind, dann können auch Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf gut gefördert werden, weil das Lernklima in der Gruppe stimmt. Andere Bundesländer, wie Hamburg oder Schleswig-Holstein, sind da weiter. Integrierte Schulformen wie Gesamtschulen oder Gemeinschaftsschulen sind dabei die zukunftsfähigeren Modelle für inklusive Bildung. Sie haben schon Bildungsformen entwickelt, um mit einer Vielfalt an Schülern umzugehen. Wir brauchen eine Konzeption dafür, wie wir die Regelschule so ausbauen, dass wir gute Bildung für alle Schülerinnen und Schüler ermöglichen.

epd: Die gibt es doch bereits ...

Werning: Ja. es gibt Schulen mit tollen Konzepten. Aber es gibt noch immer auch solche, an denen die Idee der Inklusion nur als Anhängsel gesehen wird. Es geht jedoch nicht nur darum, auf welche Schule Kinder mit Förderbedarf gehen sollen. Richtig gelebte Inklusion verändert die Kultur an einer Schule. Es geht um ein Aufheben von Diskriminierung, um ein Schaffen optimaler Bildungschancen und sozialer Teilhabe für alle Kinder, auch für diejenigen, die eine besondere Begabung haben oder besondere Interessen. Dafür brauchen wir eine inklusive Schulentwicklungsplanung.

epd: Ist es nicht auch eine Frage der sozialen Lebensbedingungen, auf welche Schule Kinder kommen?

Werning: Das ist so. Gravierende Lernbeeinträchtigungen sind oft eng verknüpft mit sozialer Benachteiligung. Das wusste man schon bei der Einführung der „Schulen für schwachbefähigte Kinder“ im 19. Jahrhundert. Schon damals hat man festgestellt: Die Kinder, die in der Regelschule versagen, sind häufig Kinder aus armen, sozial benachteiligten Haushalten. Daran hat sich bis heute wenig verändert. Andere Kinder werden oft schon früh gefördert. Dann haben sie ganz andere Startbedingungen, wenn sie in die Schule kommen. Das ist als ob im Sport sehr trainierte und völlig untrainierte Personen unter gleichen Anforderungen antreten müssten. Um hier mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen, bräuchten diese Schulen entweder deutlich mehr Ressourcen oder Schulbezirke müssten anders zugeschnitten werden. Hier wird deutlich, schulische Inklusion ist auf gesellschaftliche Inklusion angewiesen.