sozial-Recht

Bundessozialgericht

Zugang zu nicht zugelassenen Arzneien erschwert




Schale mit Medikamenten
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Für sterbenskranke Patienten ist es bitter: Ist eine Arznei wegen einer unzureichenden Datenlage nicht zur Behandlung zugelassen worden, muss die Krankenkasse die vielleicht letzte Behandlungschance nicht bezahlen, urteilte das Bundessozialgericht.

Kassel (epd). Für Menschen mit einer regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung sind sie oft der letzte Strohhalm: eine Therapie mit nicht zugelassenen oder außerhalb ihrer Zulassung verschriebenen Arzneimitteln. Die Kosten für ein Medikament ohne Zulassung können zwar nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) bei tödlich verlaufenden Krankheiten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, nicht aber für Medikamente, deren Zulassungsverfahren wegen unzureichender Studienlage bislang erfolglos geblieben ist. Wenn ein Zulassungsverfahren erfolglos geblieben sei und keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlägen, bestehe eine „Sperrwirkung“, sodass die Krankenkasse die Kosten nicht mehr übernehmen müsse, entschied das Bundessozialgericht (BSG) am 29. Juni in Kassel in einem Grundsatzurteil.

Jährliche Kosten von 170.000 Euro

Geklagt hatte ein heute 18-Jähriger aus Rheinland-Pfalz, der aufgrund eines Gendefekts an der seltenen Duchenne-Muskeldystrophie erkrankt ist. Seit 2015 kann er nicht mehr gehen. Die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit der Muskelschwunderkrankung liegt bei 25 Jahren.

Im Jahr 2019 beantragte er bei der AOK Rheinland-Pfalz die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna. Die Versorgung mit dem nur im Ausland erhältlichen Medikament würde jährlich rund 170.000 Euro kosten. Es ist von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) für die Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie zugelassen, wegen der eingeschränkten Datenlage allerdings nur für Patienten, die noch gehen können. Die Arznei soll den Krankheitsverlauf verlangsamen.

Der Pharmahersteller hatte zwar eine Zulassung auch für nicht gehfähige Patienten angestrebt. Das Zulassungsverfahren blieb aber vor der EMA wegen fehlender ausreichender Studien erfolglos.

Die AOK verweigerte daher die Kostenübernahme. Der Versicherte sei nicht gehfähig. Die Wirksamkeit von Translarna sei auch wegen des erfolglos gebliebenen Zulassungsverfahrens nicht belegt.

Vor Gericht berief sich der Kläger auf den sogenannten Nikolaus-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005. Damals ging es um eine Krebspatientin, die die medikamentöse Standardtherapie wegen schwerer Nebenwirkungen nicht vertrug und daher verlangte, auf Kosten der Krankenkasse mit einem nicht zugelassenen Medikament aus Kanada behandelt zu werden.

Alternative Behandlungsmethoden

Die Verfassungsrichter gaben der Frau recht. Die Krankenkassen müssten im Notfall auch für alternative Behandlungsmethoden aufkommen, selbst wenn diese nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgeführt seien. Stehe eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung, müsse auch eine von einem Arzt angewandte alternative Behandlungsmethode von der Krankenkasse bezahlt werden. Voraussetzung hierfür sei, dass eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung“ oder zumindest eine „spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf“ bestehe.

Das erneut mit dem Fall befasste BSG urteilte daraufhin am 4. April 2006, dass eine „auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf“ vorliege. Wenn die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolge und über die Behandlung und ihre Risiken umfassend aufgeklärt worden sei, dürfe die Krankenkasse ihre Leistungspflicht nicht verweigern. Dies hat der Gesetzgeber mit Wirkung ab 2012 auch in das Sozialgesetzbuch übernommen.

Unkalkulierbare Risiken

Das BSG hatte in seiner Rechtsprechung hierzu jedoch eine „Sperrwirkung“ angenommen, nach der die Leistungspflicht der Krankenkasse nicht eintritt. Diese Sperrwirkung liege vor, wenn ein Zulassungsverfahren für ein Arzneimittel erfolglos geblieben oder negativ bewertet worden sei.

Da das Zulassungsverfahren für Translarna für gehunfähige Patienten mit einer Duchenne-Muskeldystrophie wegen der unzureichenden Datenlage gescheitert sei, könne auch nicht von der erforderlichen Erfolgsaussicht der Behandlung ausgegangen werden, betonte nun das BSG. Ein Anspruch auf Versorgung bestehe daher aus Gründen der Arzneimittelsicherheit nicht.

„Die Arzneimittelzulassung muss die Patienten gerade auch bei schweren Erkrankungen vor unkalkulierbaren Risiken schützen“, erklärte Rainer Schlegel, BSG-Präsident und Vorsitzender des 12. Senats. Das arzneimittelrechtliche Zulassungsverfahren diene dem Schutz der Patienten vor „zweifelhaften Therapien“.

Das Arzneimittelrecht lasse auch erleichterte Zulassungen und in Härtefällen Ausnahmeentscheidungen zu. Diese lägen hier ebenso wenig vor wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Translarna bei nicht gehfähigen Patienten.

B 1 KR 35/21 R (BSG, Translarna)

B 1 KR 7/05 R (BSG, Krebserkrankung)

1 BvR 347/98 (Bundesverfassungsgericht)

Frank Leth