München (epd). Mit dem Fall Gustl Mollath ist die forensische Psychiatrie, in der psychisch kranke und süchtige Straftäterinnen und Straftäter untergebracht sind, heftig in die Kritik geraten. Gesetzesänderungen waren die Folge. „Seither hat sich vieles verändert“, sagt Angelika Herrmann, Zweite Vorsitzende des Landesverbandes Bayern der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (ApK Bayern), im epd-Interview mit Anna Schmid.
epd sozial: Frau Herrmann, Sie engagieren sich ehrenamtlich für Angehörige psychisch erkrankter Menschen und hatten selbst ein Familienmitglied in der forensischen Psychiatrie. Haben Sie das Gefühl, dass Angehörige mitbekommen, wie es den Menschen in der forensischen Klinik geht?
Angelika Herrmann: Wenn Angehörige die Patienten dort besuchen, dann bekommen sie natürlich einen Eindruck durch deren Erzählungen. Und natürlich gibt es in den Kliniken Regeln, die mitunter für die Patienten schwer zu verstehen oder auszuhalten sind. Somit entsteht für Angehörige teilweise ein etwas verschobenes Bild.
epd: Was wünschen Sie sich von den Kliniken?
Herrmann: Ich würde mir einen intensiveren, regelmäßigen Austausch mit den behandelnden Ärzten, den Therapeuten und dem pflegenden Personal wünschen. Insbesondere zu Beginn der forensischen Unterbringung eine umfangreiche Aufklärung. Mehr Verständnis für den „Ausnahmezustand“ der Angehörigen in diesem Moment. In manchen Kliniken gelingt dies bereits. Man bemüht sich sehr, Gespräche mit den Angehörigen zu führen, insbesondere auch dann, wenn der Patient bald entlassen wird. Auch bieten einige Kliniken sogenannte Angehörigentreffen an. Hier können sie sich untereinander austauschen und auch Vertretern der Klinik Fragen stellen.
epd: 2015 ist in Bayern ein neues Maßregelvollzugsgesetz in Kraft getreten. Dem vorausgegangen war öffentliche Kritik am Maßregelvollzug, am bekanntesten ist der Fall Gustl Mollath. Was hat sich mit dem neuen Gesetz geändert?
Herrmann: Seither hat sich vieles verändert. So gibt es etwa keine „Black-Box“-Forensik mehr, weil die Kliniken eine regelmäßige Berichtspflicht haben. Beispielsweise, wie viele Patienten oder Patientinnen sie im Jahr haben, wie viele Zwischenfälle es gab und welche Zwangsmaßnahmen angewendet wurden.
epd: Haben Patientinnen und Patienten denn genügend Möglichkeiten, sich zu beschweren?
Herrmann: Die haben sie. Sie können sich an die Patientenbeauftragten der Kliniken wenden oder an den Maßregelvollzugsbeirat, den es seit der neuen gesetzlichen Regelung in jeder bayerischen Forensik gibt. Dessen Vorsitzender und sein Stellvertreter werden aus dem Kreis der Landtagsabgeordneten gewählt, unter den übrigen Mitgliedern können auch Angehörige ernannt werden, deren Kenntnisse aus dem Alltag der Forensik oft eine wertvolle Bereicherung für die anderen Mitglieder sind. Ebenfalls seit der neuen gesetzlichen Regelung gibt es das Amt für Maßregelvollzug. Dessen Mitarbeiter besuchen routinemäßig jede Klinik ein- bis zwei Mal im Jahr, halten Sprechstunden ab und erkundigen sich - genau wie der Maßregelvollzugsbeirat auch - nach Vorkommnissen oder eventuellen Missständen. Wenn die Beiratsmitglieder oder Mitarbeiter des Amtes für Maßregelvollzug kommen, weiß das die Klinik und informiert die Patienten über die Möglichkeit, mit diesen zu sprechen.
epd: Tut sich danach auch was?
Herrmann: Ja, auf jeden Fall. Möglicherweise passiert nicht immer gleich etwas oder das, was die Patienten sich wünschen. Denn nicht jeder Wunsch ist erfüllbar. In diesen Fällen versucht der Maßregelvollzugsbeirat in Gesprächen mit den Patienten die Situation bestmöglich zu erklären.
epd: Worüber beschweren sich die Patientinnen und Patienten?
Herrmann: Über alles Mögliche. Etwa, dass sie ein anderes Medikament wünschen und nicht bekommen, dass ihr Taschengeld nicht pünktlich ausgezahlt wird oder dass sie mit der Anschaffung der Kleidung unzufrieden sind. Dass die Station zu laut ist, über Mitpatienten, über die langen Zeiten der juristischen Abwicklungen, über zu wenig Therapien, über zu viel Leerlauf. Aber ganz vorne ist immer: „Ich bin hier schon so lange - wann komme ich raus?“ Häufig haben schwerer erkrankte Patienten ein Bild von sich, welches nicht dem Eindruck der Ärzte entspricht. Sie haben möglicherweise noch nicht verinnerlicht, was der Grund ihres Klinikaufenthalts ist und warum sich im Moment daran nichts ändern lässt.
epd: Kann es passieren, dass die Klinik Lockerungen widerruft oder jemanden nicht entlässt, wenn er oder sie sich nicht anpasst?
Herrmann: Das ist ein schwieriges Thema, auch für die Kliniken. In der Regel ist dieser Vorwurf heute nicht mehr haltbar. Es ist nicht so, dass die Kliniken Lockerungen zurücknehmen, wenn sich jemand nicht regelkonform verhält, auch wenn manchmal der Eindruck entsteht. Ich sehe eher, dass sie eine Entlassung möglich machen wollen. Aber natürlich entscheiden die Kliniken anhand professioneller Kriterien und haben daher oftmals eine andere Einschätzung als die Patienten und die Angehörigen: Der Patient sagt, dass es ihm gut geht, und die Klinik ist der Meinung, dass er noch nicht stabil ist oder sich vielleicht noch nicht genügend mit seiner Tat auseinandergesetzt hat. Und es gibt Patienten, bei denen es ganz schwierig wird. Gerade, wenn sie mehrere Diagnosen haben, wie Suchtdiagnosen, psychiatrische Diagnosen und vielleicht noch eine Lernbeeinträchtigung. Die Schwere der Erkrankung macht dann häufig keine Einsicht möglich.
epd: Auch gegen ihren Willen dürfen Patientinnen und Patienten Medikamente gegeben werden. 2021 hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass das als „letztes Mittel“ möglich ist. Wie bewerten Sie das?
Herrmann: Ja, das ist möglich, aber eben nur unter ganz bestimmten, sehr engen Bedingungen. Manchmal ist das zum Leidwesen der Angehörigen, die die Erkrankung und ihre Auswirkungen ja schon sehr lange miterleben und wissen, dass man schnell handeln muss, wenn sich erneut eine Krise andeutet. Beim Verband der Angehörigen in Bayern wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es manchmal unwürdiger ist, wenn man schwer und chronisch erkrankte Menschen in ein selbstzerstörerisches Leben entlässt, indem man ihrem Wunsch nachgibt und sie nicht behandelt. Häufig ist die Folge Obdachlosigkeit oder Selbstschädigung.
epd: Eine andere hochumstrittene Zwangsmaßnahme sind Fixierungen: Patienten werden ruhiggestellt, indem sie mit Gurten oder Riemen ans Bett gefesselt werden. Was hat sich da getan?
Herrmann: Das gibt es immer noch, aber zunehmend ändert sich das Bewusstsein. Inzwischen versucht man eher präventiv dahingehend einzuwirken, dass eine Fixierung gar nicht erst zum Einsatz kommt. Außerdem bedeuten die inzwischen ergangenen gesetzlichen Änderungen bedeutend mehr Aufwand, wie zum Beispiel Dokumentationspflicht oder Überwachung rund um die Uhr. Oftmals sind es auch wenige Patienten in einer Station, die die Fixierungszahlen ausmachen. Schon vor zehn Jahren hat unser Verband den Vorschlag in einer Forensik eingebracht, Räume einzurichten, in dem die Patienten sich ausschreien oder austoben können. Inzwischen gibt es derlei „Time-Out“-Möglichkeiten und sie werden als erfolgreich bezeichnet. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Klinik in aller Regel daran interessiert ist, Fixierungen nur in Ausnahmefällen vorzunehmen. Für die Mitarbeiter ist das nämlich auch eine Belastung. Insgesamt sind Fixierungen deutlich weniger geworden, und es gibt gute Bemühungen, dass sie noch seltener vorkommen.