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Psychologie

Wenn Zwänge das Leben bestimmen




Permanentes Händewaschen kann Ausdruck einer Zwangsstörung sein.
epd-bild/Andrea Enderlein
Noch kurz kontrollieren, ob der Herd aus ist. Das ist normal. Wenn solche Rituale aber den Alltag bestimmen, fängt der Zwang an. Therapien können helfen.

Frankfurt a. M. (epd). Eine Stunde saß Simon Köster (Name geändert) auf der Toilette. Zwei Rollen Klopapier gingen drauf, bis er sich endlich sauber fühlte. Der 61-Jährige aus Hessen erinnert sich an die schlimmsten Phasen seiner Krankheit. Köster leidet unter Zwangsstörungen - seit seinem 15. Lebensjahr, wie er erzählt. Eine davon: ein Waschzwang.

Aus sieben bis neun Stunden Zwangshandlungen pro Tag habe er es nach einer 16-wöchigen stationären Therapie in Münster auf eine Stunde geschafft. Heute geht es dem Sozialpädagogen besser, wie er sagt. Seit Jahren nimmt er Antidepressiva: „Ohne geht es nicht.“ Einmal habe er es versucht ohne die Tabletten. Die Zwänge seien rasch zurückgekommen.

Corona hat die Situation verschärft

Zwei bis drei Prozent aller Menschen erkranken laut Angaben des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie im Laufe ihres Lebens an einer Zwangsstörung. Dabei kommt es zu Handlungen oder Gedanken, die Betroffene wiederholt ausführen müssen. Zwangsstörungen können so stark werden, dass sie den ganzen Alltag bestimmen. Zu den häufigsten Arten gehören Reinigungs- und Waschzwänge, Kontrollzwänge sowie Wiederhol- und Zählzwänge. Die Corona-Pandemie habe die Zwänge bei vielen Kranken nochmals verschärft, sagt die Freiburger Psychologin und Psychotherapeutin Anne Katrin Külz.

Einige davon kennt auch Pauline, die einen Internet-Blog zu dem Thema betreibt. Die 25-jährige Sozialarbeiterin ist seit vielen Jahren von einer Zwangsstörung betroffen, wie sie sagt. Die offizielle Diagnose sei erst vor anderthalb Jahren gestellt worden. „Die Krankheit hat sich schleichend entwickelt. Schon als kleines Kind hatte ich das Gefühl, eine große Verantwortung zu tragen und wollte niemanden enttäuschen.“ Immer wollte sie alles ganz genau machen, perfekt sein.

Oft liegt der Anfang der Zwänge im Kindesalter

Tatsächlich geben Wissenschaftler an, dass der Beginn von Zwängen oft schon in der Kindheit entwickelt wird. Bei einem Drittel der Betroffenen tritt eine Zwangsstörung bereits in der Pubertät auf. In den allermeisten Fällen wird laut Külz die Diagnose mit Anfang 20 bestimmt.

Pauline leidet unter Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. „Der erste Zwang war zum Beispiel die Kontrolle, ob das Glätteisen auch wirklich aus ist.“ Die Angst, sie könnte verantwortlich sein für einen Brand des Hauses und den möglichen Tod der Bewohner, verfolgte sie permanent, wie die junge Frau aus Hessen erzählt. Später seien immer mehr Zwänge hinzugekommen. Besonders die Zwangsgedanken, sie könnte eine schlimme Straftat begangen haben, ohne es zu merken, hätten fortan ihren Alltag bestimmt. „Ich hatte ständig Angst, gleich von der Polizei abgeholt zu werden.“ Sie traute niemanden mehr über den Weg, nur ihr Partner wusste Bescheid.

Von einer Zwangsstörung sprächen Experten dann, wenn Zwangshandlungen zeitintensiv seien oder zu Beeinträchtigungen in wichtigen Lebensbereichen führten, erklärt Expertin Anne Katrin Külz. Sie ist auf die Behandlung von Zwangsstörungen spezialisiert und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen.

Ursachen weitgehend unerforscht

Die genauen Ursachen einer Zwangsstörung sind nach Angaben des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie nicht bekannt, Forschungsergebnisse deuteten auf Veränderungen in Hirnsystemen hin. Laut Külz beeinflussen verschiedene Faktoren die Entstehung einer Zwangsstörung, etwa eine sehr gewissenhafte Persönlichkeit. Auslöser könnten bedeutsame Lebensereignisse sein, wie der Wechsel in die erste eigene Wohnung oder die Geburt des ersten Kindes. Betroffen seien Männer und Frauen gleichermaßen, sie kämen aus allen sozialen Schichten, erklärt die Therapeutin. Bei 60 Prozent ihrer Patientinnen und Patienten kämen im Lauf des Lebens Depressionen hinzu.

Als Therapie hat sich die kognitive Verhaltenstherapie bewährt, wie die Expertin berichtet. Dabei werden die Erkrankten bewusst mit ihren Zwängen konfrontiert. Das Problem: Viele Menschen verheimlichten die Symptome lange.

Warnung vor vorschnellen Diagnosen

Umgekehrt sei aber auch Vorsicht geboten mit einer vorschnellen Diagnose. Wenn etwa auf Social Media Betroffene von ihren Zwängen berichteten, sei die Gefahr groß, dass man selbst denke, man sei betroffen. Im Internet geisterten zudem viele Mythen zur Behandlung von Zwängen herum. Külz wünscht sich, dass Praxen mehr Online-Therapien möglich machten, da die Wartelisten für Patienten und Patientinnen mit Zwangserkrankungen lang seien. Sie betont: „Zwangsstörungen sind gut behandelbar.“

Auch Pauline fordert niedrigschwellige Therapie-Angebote. Mit ihrem Blog und ihrem Instagram-Auftritt möchte sie anderen Betroffenen Mut machen und dazu beitragen, dass psychische Erkrankungen nicht mehr stigmatisiert werden. Und Simon Köster hofft, dass Zwangsstörungen eines Tages kein Tabu-Thema mehr sein werden. Bei seinem jetzigen Arbeitgeber weiß niemand von seiner Krankheit.

Carina Dobra