sozial-Branche

Behinderung

Den Oberbürgermeister mit den Händen kennenlernen




In Nürnberg zeigen Behinderte und Nichtbehinderte Touristen gemeinsam die Stadt.
epd-bild/Julia Riese
Bei den "Kultouren für alle" in Nürnberg organisieren Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam inklusive Stadtführungen. Im Alten Rathaus können blinde Menschen einen Raum mit den Ohren erkunden - oder das Bild des Oberbürgermeisters mit den Händen.

Nürnberg (epd). Als sich die Türen zum Historischen Rathaussaal in Nürnberg öffnen, sind alle ganz still. Blinde Menschen werden bei der Führung „Rathaus für alle“ an dieser Stelle von Elisabeth Tenner an der Hand genommen und durch den großen Raum geführt. Die Schritte hallen, die Klimaanlage rauscht im Hintergrund, man spürt die Weite des 40 mal zwölf Meter großen Saals. Auch Sehende dürfen das mit ihr ausprobieren und mit geschlossenen Augen die Atmosphäre auf sich wirken lassen.

Bei der inklusiven Führung erkunden Behinderte und Nichtbehinderte gemeinsam das Rathaus. Dazu gehört auch ein Porträt des Oberbürgermeisters Marcus König (CSU) - selbstverständlich in Brailleschrift. Denn die macht nicht nur Texte für blinde Menschen lesbar, sondern auch Bilder: Die Gesichtszüge, Haare und Brille Königs heben sich vom weißen Papier ab, genauso wie Anzug, Krawatte und Amtskette. „Uns ist es wichtig, dass alle Menschen, die hier mitmachen, etwas davon haben“, sagt Elisabeth Tenner.

Ziel ist es, Menschen zusammenzubringen

Die Rathaus-Tour ist Teil des Pionierprojekts „Kultouren für alle“, das von der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg erarbeitet wurde. Es soll schon vor den eigentlichen Stadtführungen Menschen mit und ohne Behinderung zu Teams zusammenbringen: Gemeinsam bieten sie Führungen zu einem selbst gewählten Thema an. Neun dieser Führungen sind seit Projektbeginn 2021 entstanden, zum Beispiel im Germanischen Nationalmuseum, auf der Straße der Menschenrechte oder im Saal 600 im Memorium Nürnberger Prozesse.

Die Menschen, die diese Touren anbieten, sind keine ausgebildeten Stadtführerinnen und Stadtführer. Sie interessieren sich für das Thema und lernen in einer mehrwöchigen Ausbildung, wie Kulturvermittlung funktioniert und wie man einer Gruppe von Menschen begegnet.

Die Freundinnen Rita Heinemann und Elisabeth Tenner haben sich 2022 gemeinsam angemeldet. In ihrem Team haben beide eine Beeinträchtigung: Tenner ist schwerhörig, Heinemann gehbehindert. „Ich bin im Behindertenrat der Stadt Nürnberg und dort wurde das Projekt vorgestellt“, erzählt Tenner. Bei der Vorstellung war auch der Oberbürgermeister dabei, der selbst vorschlug, eine inklusive Führung an seinem Amtssitz anzubieten.

Tipps zur Inklusion gibt es auch

Heinemann setzt den Fokus in der Führung durch das Rathaus auf den barrierefreien Zugang zu den präsentierten Räumen. Sie erzählt von den Schwierigkeiten, in die massiven Steinwände der Ehrenhalle im Erdgeschoss einen Aufzug einzubauen und wie sie und ihre Mitstreiter es nach 15 Jahren geschafft haben, das Bauprojekt ins Rollen zu bringen. Heinemann arbeitet seit mehr als 25 Jahren als ehrenamtliche Stadträtin. „Ich kenne das Rathaus wie meine Westentasche“, erzählt sie, „und kann auch ein paar Geschichten mit den Leuten teilen, die in keinem Stadtführer stehen.“

So erfahren die Teilnehmenden, dass die Höhe der Nürnberger Bordsteine international als Vorbild für Barrierefreiheit gilt und dass man mit einem Schwerbehindertenausweis bevorzugt einen Termin im Rathaus bekommt. Im Plenarsaal erklären die Stadtführerinnen anhand von kleinen Spielfiguren die Aufgaben des Stadtrats und des Behindertenbeirats und geben Tipps, wo es in Nürnberg Informationen zu Inklusion gibt oder wo man kostenlos seine Wasserflasche auffüllen kann.

Wechsel zur Leichten Sprache ist jederzeit möglich

Bei Bedarf können Tenner und Heinemann jederzeit zur leichten Sprache wechseln. „Wir orientieren uns immer an den Bedürfnissen der Menschen in der Gruppe“, sagt Tenner. Das unterscheide sie von klassischen Stadtführungen.

Die Teilnehmenden sind nach der Führung positiv überrascht. „Ich konnte mir erst gar nichts darunter vorstellen“, gibt Klaus Wörner zu. „Aber die ganzen Erklärungen waren toll. Ich lebe seit 30 Jahren in Nürnberg und habe wirklich eine neue Verbindung zu dieser Stadt bekommen.“ Seine Frau Kirsten Wörner, die als Rollstuhlfahrerin teilgenommen hat, findet die Details zur Renovierung und dem historischen Rathaussaal besonders spannend. „Und natürlich ist es toll, dass es in so einem alten Gebäude einen Fahrstuhl gibt.“

Das Interesse an den Führungen steige, sagt Projektleiterin Diana Löffler vom Caritas-Pirckheimer-Haus. Wenn im Juni 2023 die Special Olympics World Games für tausende Athletinnen und Athleten mit geistiger und mehrfacher Behinderung zum ersten Mal in Berlin stattfinden, ist Nürnberg eine der Gastgeberstädte. Dann werden auch Führungen der „Kultouren für alle“ im Programm zu finden sein, wie Löffler erzählt. Und, ergänzt sie: Andere Städte hätten sich bereits nach dem Konzept erkundigt.

Julia Riese