Furtwangen (epd). Seit 30 Jahren gibt es die Tafeln in Deutschland. Im vergangenen Jahr suchten zwei Millionen Menschen dort Hilfe - so viele wie nie zuvor. „Dass die Tafeln so am Anschlag sind, zeigt doch, wie dringend sich etwas ändern muss“, sagt der Gesellschaftswissenschaftler Stefan Selke im Interview. Anna Schmid hat mit ihm gesprochen.
epd sozial: Lebensmittel, die nicht mehr gebraucht werden, an arme Menschen zu geben, klingt doch wie eine gute Idee. Sie sagen aber, dass es das nicht ist. Warum nicht?
Stefan Selke: Der Überfluss der Wegwerfgesellschaft ist eine Folge unserer Konsumgewohnheiten. Wenn man davon spricht, Lebensmittel zu retten, indem man sie an arme Menschen verteilt, ist das eine zynische Verknüpfung. Man sollte versuchen, die Ursachen für Armut in einem der reichsten Länder der Welt zu bekämpfen und den Fokus darauf legen, dass Menschen genug von dem haben, was sie brauchen. Menschen sollte man retten, nicht Lebensmittel.
epd: Warum gibt es die Tafeln?
Selke: Die Tafeln in Deutschland und in anderen Ländern haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind ein vormodernes Almosen- und Barmherzigkeitssystem. Das füllt immer dort eine Versorgungslücke, wo Austeritätspolitik, also eine Politik der Sparsamkeit und der Abwertung des Sozialen, sowie neoliberales Denken, also die Betonung von Selbstverantwortung statt Solidarität, selbstverständlich werden. Die Verantwortung für die Daseinsfürsorge wird an den Einzelnen abgegeben. Weiterhin werden Freiwillige und deren Engagement für diese Aufgabe aktiviert und instrumentalisiert. Genau deshalb sind die ersten Tafeln in den USA entstanden, wo die soziale Sicherung noch viel schlechter ist und es eine Tradition von Charity gibt. Die Strategie wirkt auch in Deutschland. Dort hat die Zahl der Tafelgründungen nach der Einführung der Agenda 2010 rasant zugenommen. Es geht mir aber nicht darum, die Tafeln zu kritisieren, sondern zu hinterfragen, welche Rolle sie in unserer Gesellschaft spielen.
epd: Welche Rolle ist das?
Selke: Natürlich arbeiten dort zahlreiche engagierte Menschen, die vor Ort helfen wollen. Aber gesamtgesellschaftlich tragen die Tafeln seit 30 Jahren zur Stabilisierung einer „kalten“ Gesellschaft bei, weil die Armut mehr und mehr in dieses System delegiert wird. Und jetzt gibt es plötzlich diesen Bumerang-Effekt: Man sagt, dass es zu wenig Lebensmittelspenden gibt und gleichzeitig zu viel Nachfrage. Die Tafeln wollten und sollten aber nie die einzige Lösung zur Versorgung armer Menschen sein. Die Frage darf jetzt also gerade nicht sein, wie der Staat die Tafeln unterstützen kann.
epd: Sondern?
Selke: In einem zivilisierten Land müssen wir uns fragen, wie man Menschen genug zum Leben geben kann, ohne dass sie bei der Sicherung ihrer Existenzgrundlage fremdbestimmt werden. Wir leben in einer Konsumgesellschaft und wer nicht am Konsum teilnehmen kann - egal auf welchem Niveau - verliert ein Stück weit seine Bürgerrechte. Und damit bekommen wir früher oder später ein Demokratieproblem. In Almosensystemen sind die Menschen fremdbestimmt. So kann es keine soziale Gerechtigkeit geben. Ein Misstrauen, dass arme Menschen nicht mit Geld umgehen können und man ihnen deshalb Dinge geben muss, halte ich für menschenverachtend.
epd: Ist eine Gesellschaft ohne Armut überhaupt denkbar?
Selke: Zu sagen, dass es immer Armut geben wird, ist Kennzeichen weitverbreiteter Utopie-Müdigkeit. Gesellschaft kann immer auch anders sein. Es gibt viele kleine Modellprojekte, in denen Menschen es schaffen, anders zu leben, anders zu wirtschaften und Armut abzuschaffen.
epd: Haben Sie Beispiele für solche Modellprojekte?
Selke: Vergleichbar mit Tafeln war ein Projekt in Salzburg: Max Luger, ein Ex-Banker und ehemaliger Mönch, saß in einem Container mitten in der Stadt, hat Spendengelder gesammelt und an arme Menschen verteilt. Zu ihm kamen Menschen, wenn sie ihre Heizung oder ihren Strom nicht bezahlen konnten. Sie brauchten keine Almosen, auch keine zehn Euro oder eine Tüte mit Lebensmitteln, sondern 100 oder 200 Euro, um ihre Rechnung zu bezahlen. Bei aller möglichen Kritik: Utopisch ist das positive Menschenbild, das Luger über viele Jahre leitete. Auch wenn ihm manche hin und wieder einen Bären aufgebunden haben. Das ist nur ein ganz kleines Modellprojekt, das sich nicht auf die gesamte Gesellschaft übertragen lässt, aber die Kernidee ist schön. Denn sie rückt Selbstbestimmtheit des Menschen in den Vordergrund, seine eigene Handlungsfähigkeit. Und genau darum geht es in sozial gerechten Gesellschaften.
epd: Wer profitiert denn von den Tafeln?
Selke: Die eigentlichen Profiteure der Tafel sind die Unterstützer aus der Industrie. Die Unternehmen brauchen die Tafeln für ihr Reputationsmanagement. Die eigentliche Ware der Tafeln, ist das nachgefragte Gefühl, Gutes zu tun - Charity eben.
epd: Gerade jetzt verzeichnen die Tafeln einen Ansturm wie nie. Wie könnten denn die vielen Menschen, etwa die Geflüchteten aus der Ukraine, kurzfristig versorgt werden?
Selke: Ich kann keine Alternativen aus dem Hut zaubern. Aber dass die Tafeln so am Anschlag sind, zeigt doch, wie dringend sich etwas ändern muss. Denn spätestens jetzt sehen wir, was ein solches Freiwilligensystem nicht leisten kann: Grundversorgung und Existenzsicherung. Egal, wie sehr es sich professionalisiert. Die Tafeln werden sowieso weitermachen und ihr Bestes geben. Es muss auch honoriert werden, wie die Menschen sich engagieren. Aber auf einer anderen Ebene ist es jetzt Zeit für eine grundsätzliche Debatte darüber, was uns das Soziale noch wert ist.
epd: Für ihr Buch „Schamland“ aus dem Jahr 2013 haben Sie mit Menschen gesprochen, die zu den Tafeln gehen. Wie empfinden die Menschen den Besuch bei den Tafeln?
Selke: Titelgebend war das Gefühl, dass die Nutzung der Tafeln schambehaftet ist. Tafeln sind ein sozialer Platzanweiser. Es gibt Menschen, die einfacher damit umgehen können. Und es gibt Menschen, die Aspekte der Tafeln genießen können, weil sie Teil einer Gemeinschaft sind. Aber Tafelnutzer gehören eben nicht zur Mitte der Gesellschaft, sondern sind gemeinsam ausgeschlossen. Tafeln sind gerade keine soziale Utopie, selbst wenn es dort Kaffee und Kuchen gibt. Und das ist das Grundgefühl der Menschen: Sie spüren, wo sie angekommen sind.