Kassel (epd). Eine erhebliche Beeinträchtigung der Gehfähigkeit aufgrund einer psychischen oder einer neuromuskulären Erkrankung kann nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) die Zuteilung des Merkzeichens „aG“ und damit das Recht begründen, auf Behindertenparkplätzen zu parken. Das allein mögliche Gehen in vertrauter Umgebung oder nur auf ebenen Böden schließt eine „außergewöhnliche Gehbehinderung“ schwerbehinderter Menschen nicht aus, urteilte am 9. März das BSG in Kassel.
Zum 30. Dezember 2016 hatte der Gesetzgeber die Zuteilung des Merkzeichens „aG“ neu geregelt. Danach gelten schwerbehinderte Personen als „außergewöhnlich gehbehindert“, wenn die Gehbeeinträchtigung einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 begründet und Betroffene sich nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen können. Danach können auch neuromuskuläre Gesundheitsbeeinträchtigungen, Störungen des Atmungssystems oder Störungen „mentaler Funktionen“ wegen damit einhergehender Mobilitätsbeeinträchtigungen den Anspruch auf das Merkzeichen „aG“ begründen.
Betroffene haben mit dem Merkzeichen nicht nur die Möglichkeit, im öffentlichen Verkehrsraum auf Behindertenparkplätzen zu parken. Sie können auch unentgeltlich im öffentlichen Personennahverkehr fahren und werden von der Kfz-Steuer befreit.
Im ersten vom BSG entschiedenen Fall leidet der aus Sachsen stammende Kläger an einer Muskelschwunderkrankung. Er kann nur unter ebenen und möglichst glatten „Idealbedingungen“ längere Strecken gehen, etwa auf einem Krankenhausflur. Bereits bei leicht unebenen Böden droht ein Sturz. Dann könne er nicht allein aufstehen, sagte der Mann vor Gericht. Einen Rollator oder Unterarmstützen könne er nicht benutzen. Um Wege zum Arzt möglichst kurz zu halten, wollte er auf Behindertenparkplätze parken. Hierfür benötige er das Merkzeichen „aG“.
Der zweite Kläger, ein heute 14-jähriger, geistig behinderter Jugendlicher aus Baden-Württemberg, ist wegen eines angeborenen Gendefekts in seiner Körpermotorik erheblich eingeschränkt. Auch aus psychischen Gründen kann er nur in vertrauter Umgebung ohne Hilfe Gehstrecken bewältigen, etwa zu Hause oder in seiner Schule.
In beiden Fällen lehnten die Behörden die Zuteilung des Merkzeichens „aG“ ab. Die Kläger könnten ja noch teilweise gehen. Im ersten Fall sei das Gehen auf glatten Untergründen und im zweiten Verfahren in vertrauter Umgebung möglich.
Das BSG urteilte, dass für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ „die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich ist“. Könne sich ein erheblich gehbehinderter Mensch dort dauerhaft „nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, stehe ihm das Merkzeichen aG zu“. Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation, sei demgegenüber „grundsätzlich ohne Bedeutung“.
Die obersten Sozialrichter verwiesen in Kassel auf den Zweck des Merkzeichens. Denn mit den damit gewährten Parkerleichterungen sollten die notwendigen Wege verkürzt und die eingeschränkte Gehfähigkeit ausgeglichen werden. Dabei gehe es um Wege etwa zur Arztpraxis, zur Arbeit oder zum Einkaufen. „Denn gerade das Aufsuchen solcher Einrichtungen fördert eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft.“ Hier reiche bei beiden Klägern die Gehfähigkeit für derartige Zwecke nicht aus.
Das Verfahren des Klägers mit der Muskelschwunderkrankung verwies das BSG an das Sächsische Landessozialgericht (LSG) zurück. Denn für das Merkzeichen „aG“ müsse allein die Gehbeeinträchtigung einem GdB von 80 entsprechen. Dies sei bei dem Kläger nicht ausreichend geklärt worden.
Im zweiten Verfahren liege bei dem Jugendlichen dagegen eine „mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung“ vor, die einem GdB von 80 entspricht. Hier könne der geistig behinderte und in seiner Motorik beeinträchtigte Kläger ohne fremde Hilfe nicht im öffentlichen Verkehrsraum gehen, so dass er das Merkzeichen „aG“ beanspruchen könne.
Das Sozialgericht Bremen hatte mit Urteil vom 29. November 2018 zudem klargestellt, dass gehbehinderte Menschen für die Zuteilung des Merkzeichens „aG“ nicht „absolut gehunfähig“ sein müssen. Könne der behinderte Mensch nur mit dem Festhalten an einem Rollator oder Rollstuhl gehen, komme das Merkzeichen „aG“ auch in Betracht.
Hier könne der Kläger nur mit einem Rollator stehen und dann auch nur höchstens 20 Meter laufen. Danach müsse er wegen bestehender Schmerzen eine Pause machen. Dies sei eine „außergewöhnliche Gehbehinderung“.
Az.: B 9 SB 1/22 R (BSG, Bodenunebenheiten)
Az.: B 9 SB 8/21 R (BSG, Vertraute Umgebung)
Az.: S 20 SB 297/16 (Sozialgericht Bremen)