Stuttgart (epd). Im Jahr 1933 hat der Künstler Otto Freundlich seine Skulptur „Clamart“ gegossen, in einer Auflage von sechs Stück. 90 Jahre später zieht eine blinde Besucherin der Staatsgalerie Stuttgart dünne schwarze Handschuhe an, mit denen sie diese Skulptur ertasten darf. Sie nimmt an einer Erlebnis-Tastführung teil und ist froh über dieses Angebot. Dabei erzählt sie von ihrem Traum: Sie liebt die Bilder von Paul Klee und wünscht sich sehr, dass ihr jemand diese Bilder, die sie mit ihren Augen nicht mehr sehen kann, in Worten beschreibt.
Dieses Angebot gibt es in der Staatsgalerie noch nicht, aber bereits viele andere für Menschen mit Einschränkungen. Im Foyer bietet der neu eingerichtete „Treffpunkt Inklusion“ einen Lageplan des Museums, der sich ertasten lässt. Im Museum leiten kleine Beschriftungen in Brailleschrift die Besucher. Sie wurden vor einigen Tagen von sehbehinderten Schülerinnen und Schülern der Nikolauspflege auf Praxistauglichkeit getestet.
Hinter solchen Tests steht Christiane Lange, Direktorin der Staatsgalerie, mit großer Überzeugung. „Wir können die Angebote nicht so schaffen, wie wir denken, dass sie sein sollen“, sagt sie, „das geht nur im Dialog mit Betroffenen.“ Was sie sich inständig wünscht, ist, dass Menschen mit und ohne Handicap den Weg zur Staatsgalerie trotz aktuell aller Baustellen ähnlich leicht finden, wie die Orientierung im Museum selbst gelingt. Sie wünscht sich auch „dort draußen“ ein funktionierendes Leitsystem. „Seit zehn Jahren beiße ich mir daran die Zähne aus.“
In Baden-Württemberg gebe es 950.000 Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung, sagt Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Nur bei drei Prozent bestehe die Behinderung von Geburt an, bei 97 Prozent trete sie im Laufe des Lebens ein. „Zugänglichkeit ist eine Voraussetzung, damit alle teilhaben können.“ Die Staatsgalerie wolle auch Künstlern, die eine Behinderung haben, eine Bühne bieten, betont sie.
Was Inklusion bedeute, werde in der Staatsgalerie beispielhaft vorgelebt, sagt Staatssekretär Arne Braun. Mit Fühlen und Tasten ließen sich nicht nur Informationen erschließen, sondern auch Kunst. Die Angebote seien so, dass sie zum Wiederkommen motivieren.
Gerade sind Schülerinnen und Schüler der Stuttgarter Nikolauspflege und der Schlossschule in Ilvesheim bei Mannheim zu Gast in der Staatsgalerie. Die Figuren des Triadischen Balletts von Oskar Schlemmer haben die Kinder zuerst als maßstäblich verkleinerte 3D-Drucke und Reliefs ertastet. Ein mit großem Aufwand erstelltes Kreativheft mit Brailleschrift stellt ihnen die Figuren ebenfalls vor. Auf Basis dieser Inspiration erstellt die Gruppe in der Werkstatt eigene Figuren. Was die Kinder besonders schätzen: Die dafür verwendeten Filzelemente in vielen Formaten sind selbstklebend, sie brauchen keinen für sie nicht oder schwer sichtbaren Klebstoff aus der Tube.
Weil Gemälde wie ein Schlüssel zu Gedanken und Empfindungen wirken können, bietet die Staatsgalerie auch Führungen für Menschen mit Demenz an, inklusive kleiner Kaffeerunde. Eine Führung durch die Höhepunkte der Sammlung, speziell für Menschen mit Behinderung, ist in Vorbereitung. Auch Angebote für Gehörlose und Hörgeschädigte sind im Angebot.
Diese speziellen Angebote richten sich auch an Menschen ohne die jeweilige Behinderung, sie zu erleben soll das eigene Verständnis fördern - damit mit dem Verständnis auch die Selbstverständlichkeit wächst. „Neulich war ich auf einem Verkehrsübungsplatz“, berichtete Simone Fischer. „Der hatte auch Blindenleitlinien, das fand ich stark.“