Gelsenkirchen/Berlin (epd). Günter Scheidler hat wenige schöne Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Die Zeit, die er in Anstalten und Landeskrankenhäusern verbracht hat, verbindet er mit seinem einzigen Freund, dem weißen Hasen, einem Kuscheltier. Das ist auch der Titel seines Buches, das er im Selbstverlag veröffentlicht hat. Darin will er über die Missstände in Kinderheimen nach dem Zweiten Weltkrieg aufklären. „Das Heimpersonal hat uns unserer Seele beraubt“, sagt der Gelsenkirchener.
Der heute 65-Jährige kam kurz nach seiner Geburt am 14. Oktober 1957 in Wuppertal in ein evangelisches Kinderheim. „Ich war ein klassisches Heimkind. Meine Mutter wollte mich nicht. Auch sonst kümmerte sich niemand um mich“, sagt Scheidler. Aufgrund des Mangels an Zuneigung und Aufmerksamkeit entwickelte er Wutanfälle. Durch das aggressive Verhalten landete er schließlich mit sieben Jahren in der Kinderpsychiatrie der Rheinischen Landeskliniken Langenfeld.
„Ich lebte dort inmitten vieler geistig behinderter Kinder“, erinnert sich Scheidler. Gewalt und Demütigungen hätten seinen Alltag und den vieler anderer Kinder geprägt. „Es war die Hölle auf Erden“, sagt er.
„Einmal wurde mir mit Gewalt eine Spritze in den Rücken gerammt“, erinnert er sich. Noch Monate danach habe er unter starken Schmerzen gelitten, sei auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen. „Ganz habe ich mich von dem Eingriff nie erholt, vor allem psychisch nicht. Ich hatte Todesängste“, sagt Scheidler. Er ist davon überzeugt, dass es sich hierbei um einen Medikamentenversuch gehandelt hat. Wissenschaftlichen Studien zufolge wurden an Heimkindern in den Nachkriegsjahrzehnten in großem Ausmaß Arzneimittelversuche durchgeführt.
Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) ist Träger der Rheinischen Landeskliniken Langenfeld. LVR-Direktorin Ulrike Lubek sagt: „Wir bekennen uns zu unserer Verantwortung. Wir entschuldigen uns für das auch durch schuldhaftes Handeln von Mitarbeitenden des LVR begangene Unrecht.“
Die Stiftung Anerkennung und Hilfe hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen zu unterstützen, die als Minderjährige in stationären psychiatrischen Einrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben. Sie wurde 2017 vom Bund, den Ländern sowie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz ins Leben gerufen. Träger der Stiftung ist das Bundessozialministerium.
„Die Stiftungsziele bestehen darin, die damaligen Verhältnisse und Geschehnisse öffentlich anzuerkennen, wissenschaftlich aufzuarbeiten und das den Betroffenen widerfahrene Leid und Unrecht durch Gespräche individuell anzuerkennen“, erklärt ein Ministeriumssprecher.
Angaben zufolge haben sich seit 2017 etwa 26.000 Betroffene an die Anlauf- und Beratungsstellen der Stiftung gewandt. Bis Ende des Jahres 2022 erhielten fast 24.000 Betroffene Leistungen in Höhe von rund 245 Millionen Euro. Die Leistungen wurden jeweils als einmalige Pauschale in Höhe von 9.000 Euro gezahlt. Sofern Betroffene sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, ohne dass dafür Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden, haben sie zudem eine Rentenersatzleistung von bis zu 5.000 Euro erhalten.
Der Ministeriumssprecher betont: „Die individuellen Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen dienten ausdrücklich nicht der Entschädigung erlittenen Unrechts und erfolgten auf freiwilliger Basis ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.“ Sie sollten Folgewirkungen, die ihre Ursache in dem erlittenen Leid und Unrecht haben, mildern.
Scheidler hält die finanziellen Leistungen für ungenügend. „Das ist eine Unverschämtheit in Anbetracht der Tatsache, was uns angetan wurde. Diese paar Tausend Euro für ein Leben in der Hölle sind eine Verhöhnung aller Opfer“, sagt er. Er fordert eine Opferrente für alle Heimkinder, die misshandelt wurden.