Frankfurt a.M. (epd). Bunte Plakate mit kyrillischen Buchstaben hängen im Eingangsbereich des Hotels Dormero in Frankfurt am Main. Das Haus, ein grauer Quader, liegt unweit der Messe, der Parkplatz nebenan ist voller Autos mit ukrainischen Kennzeichen, in der Nähe rauscht die S-Bahn vorbei. Seit fast einem Jahr besteht die Gästeschaft des Hotels ausschließlich aus Frauen und Kindern, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind.
„Das sind Umzugslisten“, erklärt Annette Gümbel die Bedeutung der Plakate. Die Frauen, die noch hier wohnen, organisieren damit ihre bevorstehenden Auszüge. In den Listen steht, wer wann einen zur Verfügung stehenden Kleinbus nutzen darf, um eigene Sachen zu transportieren zum Beispiel.
Gümbel ist Geschäftsführerin der KiWIS-Stiftung des in Frankfurt ansässigen Dienstleistungs-Unternehmens WISAG. Die Firma verwaltet etwa Gebäude, fertigt Passagiere am Frankfurter Flughafen ab und bietet industrienahe Dienstleistungen an wie Sicherheits- oder Cateringdienste. Sie hat das gesamte Hotel gemietet, um hier ukrainische Frauen und Kinder unterzubringen. Für ein Jahr, so war der Plan, sollte das Hotel Dormero zum „WISAG-Haus“ werden. Nun beendet WISAG das Projekt Mitte März. Nicht alle Frauen haben eine Wohnung gefunden, sie ziehen nun in Gemeinschaftsunterkünfte.
Gümbel berichtet, das Haus sei vor einem Jahr ohnehin weitgehend leer gewesen, weil der Messebetrieb wegen Corona ruhte. Nach der Zusage des Hotelbetreibers sei es schnell gegangen: „Innerhalb von zwei Tagen waren die 140 Zimmer belegt.“ 350 Frauen und Kinder wohnen Gümbels Angaben zufolge derzeit noch darin. Insgesamt hätten in dem Jahr mehr als 600 Menschen hier gewohnt. Die älteste Bewohnerin sei Jahrgang 1938. Sieben Kinder von Frauen aus dem Hotel seien in dieser Zeit zur Welt gekommen.
Eine dieser Geburten war die des kleinen Bogdan. Jetzt sitzt er neben seiner Mama Iana Dianova am Tisch und stopft sich mit Appetit Karotten und Blumenkohl ins Mündchen. Dianova ist eine Zahnärztin aus Odessa. Sie ist in der Republik Moldau geboren, ihr Mann arbeitet dort, er ist Moldauer. Beide haben noch eine siebenjährige Tochter. „Wir waren einmal zu Besuch in Moldau, und mein Mann war ein paar Mal hier“, erzählt Dianova. Da habe er seine Tochter sehen und seinen Sohn kennenlernen können.
Verbindungen in die Ukraine halten die meisten hier, schon alleine wegen der Schule für die Kinder. Denn viele von ihnen gehen zwar hier in die Regelschule, nehmen aber nachmittags zusätzlich an Unterricht teil, den ihre Lehrer per Internet von der Ukraine aus anbieten. So auch die beiden Kinder von Olena Menchynska, die mit ihr geflohen sind. Ihr 19-jähriger Sohn ist noch in der Ukraine, als Student ist er vom Militär nicht eingezogen worden. „Mathematik ist in der ukrainischen Schule sehr wichtig“, sagt die 42-Jährige, die vor dem Krieg Dozentin an einer Kiewer Hochschule war. Wichtiger als hier. Sie wolle nicht, dass ihre Kinder den Anschluss an den Schulstoff verlieren, falls es irgendwann mit der Rückkehr klappt.
Nicole Scherer ist „Mädchen für alles“, wie sie sagt. Sie leitet den Alltag im WISAG-Haus, gehört allerdings nicht zum Unternehmen, sondern zum Deutschen Roten Kreuz als Partner der WISAG. Sie hat Erfahrung in der Leitung von Flüchtlingsheimen, und die Stadt Frankfurt am Main finanziert ihre Stelle hier. Das sei aber der einzige finanzielle Zuschuss zu dem Projekt, sagt Gümbel, den Rest bezahle die WISAG selbst, bislang etwa vier Millionen Euro.
Das Unternehmen nutzt Gümbels Worten zufolge seine verschiedenen Sparten auch hier im Haus. Es stelle beispielsweise die Security und die Essensversorgung. Auch Ehrenamtliche helfen hier, teil von der KiWIS-Stiftung, teils aus dem Stadtteil. Zu Beginn habe sich eine Psychologin freiwillig um die Frauen gekümmert, eine Hebamme um die werdenden Mütter.
Und die Ukrainerinnen packen selbst mit an, etwa bei der Essensausgabe, beim Wäschewaschen oder in der flugs eingerichteten Kleiderkammer. „Rumsitzen ist für sie das Schlimmste“, beschreibt Gümbel, „viele haben gefragt, was sie tun können.“ Erzieherinnen, die aus der Ukraine geflohen sind, kümmerten sich nun im Hotel um die ganz Kleinen, Musikerinnen gäben Unterricht auf Gitarren und einem Klavier, das in einem neu eingerichteten Musikzimmer im Hotel steht.
Es sei in diesem Jahr ein weitgehend harmonisches Miteinander hier im Hotel gewesen, bilanziert Gümbel, nur mit einigen Alltagsschwierigkeiten. Am schwersten sei es hier für die älteren Jugendlichen, hat sie beobachtet. Sie stünden eigentlich kurz vor dem Sprung in ein eigenes Leben. „Und jetzt sitzen sie hier mit der Mutter und der Oma in einem Zimmer“, sagt die Geschäftsführerin. „Die sind schon ein bisschen verloren.“
Vereinzelt hätten sich fremde Männer Zutritt zum Hotel verschaffen wollen, berichtet Scherer: „In den Anfangstagen hatten wir hier dicke Autos vor der Tür, aus denen gut gekleidete, russischsprachige Männer gestiegen sind und versucht haben, Kontakte zu den Frauen hier zu knüpfen.“ Was diese Männer genau wollten, wisse sie nicht, aber der Verdacht liege nahe, dass sie Frauen für die Prostitution gesucht hätten, sagt Scherer. „Da war es schon gut, dass wir die Security hier haben.“
Olena Menchynska wohnt bereits seit August in einer eigenen Wohnung. Sie komme aber immer wieder ins Hotel, weil sie hier Freundinnen habe, erzählt sie. Sie unterstütze sie, wo sie kann, denn sie spricht mittlerweile gut Deutsch. Außerdem übt ihre Tochter hier regelmäßig auf dem Klavier. „Wenn ich eine gute Stelle bekomme, bleibe ich erst einmal in Deutschland“, sagt Menchynska, „das ist besser für die Kinder.“