sozial-Recht

Europäischer Gerichtshof

Urteil verlangt "Gesamtschutz" für Leiharbeiter




DGB-Transparent "Gleiche Arbeit - gleiches Geld" aus dem Jahr 2008
epd-bild/Jens Schulze
Leiharbeiter dürfen im Vergleich zum Stammpersonal im eingesetzten Betrieb insgesamt nicht mit geringeren Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen abgespeist werden. Verdienen Leiharbeiter weniger als die Stammbeschäftigten, dann müssen sie dafür einen Ausgleich wie etwa mehr Freizeit erhalten, urteilte der Europäische Gerichtshof.

Luxemburg (epd). Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter dürfen nach EU-Recht insgesamt nicht gegenüber der Stammbelegschaft eines Betriebs benachteiligt werden. Zwar können Tarifverträge für Leiharbeitnehmer einen geringeren Lohn vorsehen, dann müssen ihnen jedoch im Gegenzug „Ausgleichsvorteile“ gewährt werden, wie etwa mehr Urlaub oder Freizeitausgleich, urteilte am 15. Dezember der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.

Im konkreten Fall war die Klägerin von Januar bis April 2017 bei der Leiharbeitsfirma TimePartner Personalmanagement befristet angestellt. Sie wurde als Kommissioniererin bei einem Einzelhändler in Bayern eingesetzt und erhielt laut dem Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer einen Bruttostundenlohn von 9,23 Euro. Das Stammpersonal erhielt dagegen 13,64 Euro pro Stunde. Diese Bezahlung verlangte auch die Leiharbeiterin ud forderte einen Lohnnachschlag in Höhe von insgesamt 1.296 Euro - die Differenz zwischen dem Leiharbeitsentgelt und dem Lohn der Festangestellten. Die Frau verwies auf den im deutschen und in EU-Recht geltenden Grundsatz, dass Leiharbeitnehmer gleichgestellt werden müssen.

Eigentlich gilt „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“

Nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz haben Leiharbeiter eigentlich einen Anspruch auf „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“. Das Equal-Pay-Prinzip besagt, dass die Leiharbeiter die gleiche Vergütung beanspruchen können, die auch ihre Kollegen im eingesetzten Betrieb erhalten. Allerdings dürfen Zeitarbeitsfirmen einen geringeren Lohn zahlen, wenn ein entsprechender Tarifvertrag das vorsieht.

Bis zum 31. März 2017 war die geringere Vergütung nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz unbegrenzt möglich. Inzwischen dürfen Leiharbeitgeber auch auf der Basis eines Tarifvertrags nur für höchstens neun Monate einen geringen Lohn zahlen. Die geringere tarifliche Vergütung ist nach EU-Recht erlaubt, allerdings muss nach der EU-Leiharbeitsrichtlinie der „Gesamtschutz“ der Leiharbeitnehmer geachtet werden.

BAG rief den EuGH an

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) legte den Streit dem EuGH zur Prüfung vor. Insbesondere wollten die obersten deutschen Arbeitsrichter wissen, was denn unter „Gesamtschutz“ der Leiharbeitnehmer zu verstehen ist und ob hierfür ein unbefristetes Leiharbeitsverhältnis Voraussetzung ist.

Der EuGH urteilte, dass ein Tarifvertrag für Leiharbeiter ein geringeres Arbeitsentgelt vorsehen darf als jenes von Stammbeschäftigten. Der im EU-Recht verlangte Gesamtschutz für die betroffenen Beschäftigten dürfe aber nicht unter dem Tisch fallen, so das Gericht

Werden Leiharbeitnehmern schlechter bezahlt, müssen ihnen zum Ausgleich bei den wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen Vorteile gewährt werden, so der EuGH. Das könne sich etwa auf die Dauer der Arbeitszeit, Pausen, Nachtarbeit, Urlaub oder auch arbeitsfreie Tage beziehen. Andernfalls wäre der vorgeschriebene Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern „zwangsläufig geschwächt“.

Gesamtschutz können alle Leiharbeiter geltend machen

Leiharbeitgeber müssten daher immer auch die unterschiedlichen tariflichen Regelungen des Stammpersonals im Blick haben, um mögliche Ausgleichsvorteile für die Leiharbeitnehmer bestimmen zu können. Den „Gesamtschutz“ der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen könnten sowohl unbefristete als auch befristet angestellte Leiharbeiter einfordern.

Nicht die einzelnen EU-Mitgliedstaaten, sondern die Sozialpartner müssten selbst unter Beachtung des EU-Rechts den Gesamtschutz der Leiharbeitskräfte gewährleisten. Im Streit stehende Tarifverträge unterlägen dann aber einer „wirksamen gerichtlichen Kontrolle“, urteilte der EuGH.

Tarifvertrag ist entscheidend

Am 16. Oktober 2019 hatte das BAG Leiharbeitern die Möglichkeit eröffnet, leichter höhere Lohnansprüche durchzusetzen. Zahle eine Zeitarbeitsfirma nach einem Tarifvertrags ihren Beschäftigten eine geringere Vergütung als die Stammbelegschaft erhält, dürfe der Arbeitsvertrag in keinem Punkt ungünstig von diesem Tarifvertrag abweichen. Anderenfalls könne der Leiharbeitnehmer den gleichen Lohn beanspruchen, den auch die Festangestellten erhalten. Über Ausgleichsvorteile, die wegen einer geringeren Vergütung zu gewähren sind, hatte das BAG damals nicht zu entscheiden.

Müssen Leiharbeitgeber ihren Beschäftigten Lohn nachzahlen, weil der Equal-Pay-Grundsatz nicht eingehalten wurde, können sie nicht darauf verweisen, dass sie das in Form von Fahrtkosten und Zuschüssen zu Mehraufwendungen für Übernachtung und Verpflegung bereits getan haben. Wie das Bundessozialgericht in Kassel am 19. Januar 2018 urteilte, handele es sich bei diesen Leistungen nicht um Zahlungen für geleistete Arbeit, sondern um den Ersatz von Aufwendungen, „die nur dadurch ent-standen sind, dass die Arbeitnehmer ihre Arbeitsleistung auswärts im Betrieb der Entleiher verrichten mussten“. Die Zahlungen seien daher „nicht als weiteres Arbeitsentgelt auf den tatsächlich geleisteten Lohn erhöhend anzurechnen“.

Az.: C-311/21 (Europäischer Gerichtshof)

Az.: 4 AZR 66/18 (Bundesarbeitsgericht)

Az.: B 12 R 3/16 R (Bundessozialgericht)

Frank Leth