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Die 13 "Innovationsmodule" des Peter Hartz




Peter Hartz (li.) und Gerhard Schröder
epd-bild/Andreas Schölzel
Mit dem neuen Bürgergeld soll 2023 das umstrittene Hartz-IV-System Geschichte sein. Beschlossen vor 20 Jahren, sind die Erinnerungen an einstige Reformideen wie Ich-AGs und an Personal-Service-Agenturen längst verblasst - Erfindungen eines Managers namens Peter Hartz.

Frankfurt a. M. (epd). 20 Jahre sind seit den ersten Beschlüssen zu den Hartz-Gesetzen vergangen - und viele damals gepriesene Neuerungen waren kaum mehr als Episoden. An Ich-AGs und Personal-Service-Agenturen erinnern sich heute nur noch Fachleute. Doch es gibt eine bemerkenswerte Konstante: Bestand hat das Ringen um die Deutungshoheit über die Wirkung der umkämpften Arbeitsmarktpolitik des einstigen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder. Noch immer liegen sich Befürworter und Gegner von Hartz IV, das als letzter Baustein der Sozialreformen 2005 in Kraft trat, in den Haaren - und die Diskussionen nehmen auch mit Blick auf das neue Bürgergeld ab 2023 kein Ende.

Schröder, seit 1998 Chef der rot-grünen Bundesregierung, ging in seiner zweiten Amtszeit ab 2002 daran, den Arbeitsmarkt radikal umzubauen. Sein Motto: „Mut zur Veränderung.“ An seiner Seite als Impulsgeber ein bis dato auf bundespolitischer Ebene unbekannter Mann: Peter Hartz. Der VW-Manager wurde unfreiwillig zum Namensgeber von vier Arbeitsmarktreformen: 2004 wurde „Hartz IV“ zum Wort des Jahres gewählt. Schröders „Agenda 2010“, die am 14. März 2003 in einer Regierungserklärung präsentierte Dachmarke seiner umfassenden Sozialstaatsreformen, spaltete die Republik.

Vier Millionen Arbeitslose und sinkendes Bruttoinlandsprodukt

Die Lage vor war 20 Jahren in der Tat heikel: Über vier Millionen Arbeitslose bedeuteten eine Quote von 11,3 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt war rückläufig, und die Renten- und Krankenkassen agierten am Rande ihrer Belastungsgrenze. Zu allem Übel waren auch die Arbeitsämter in Verruf geraten, denn sie hatten ihre Vermittlungsstatistiken geschönt.

Basis der Reformpläne waren die Vorschläge der von der Bundesregierung am 22. Februar 2002 eingesetzten 15-köpfigen Expertenkommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung von Hartz. Der sechs Monate später vorgelegte, 343 Seiten starke Abschlussbericht enthielt 13 „Innovationsmodule“ als Vorschläge zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit sowie bereits erste Blaupausen für künftige Reformen im Sinne einer „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“.

„Die Kommission hat den Auftrag so interpretiert, dass sie nicht nur die Effizienz der Organisation und der Prozesse geprüft, sondern den Abbau von zwei Millionen Arbeitslosen in drei Jahren zum Ziel eines Gesamtkonzeptes gemacht hat, bei dem unterschiedliche Module ineinander greifen und gemeinsam Beschäftigungseffekte realisieren“, hieß es im Vorwort. Das Konzept beziehe positive Beispiele aus Pilotprojekten mit ein und verbinde marktwirtschaftliche Lösungen mit sozialer Sicherheit. „Die Balance von Leistung und Gegenleistung ist ein durchgängiges Prinzip; Arbeit soll sich lohnen, nicht Arbeitslosigkeit.“

Hartz I und Hartz II vor 20 Jahren verabschiedet

Letztlich mündeten viele dieser Ideen, wenn auch nicht eins zu eins, zunächst in die Gesetzesvorlagen Hartz I und Hartz II, die der Bundestag mit den Stimmen der rot-grünen Koalition am 19. Dezember 2002 beschloss. Das erste Gesetz enthielt Regelungen zur Leiharbeit und zu den Personal-Service-Agenturen (PSA) sowie sogenannte Bildungsgutscheine.

„Hartz II“ beinhaltete die Ausweitung der Mini-Jobs und gestaffelte Sozialversicherungsbeiträge im Niedriglohnbereich. Die PSA sollten Arbeitslose einstellen, um sie per Arbeitnehmerüberlassung zu vermitteln und sie zugleich in verleihfreien Zeiten zu qualifizieren. Unter dem Label „Ich-AG“ firmierten Arbeitslosengeldempfänger, die sich mit Hilfe eines Existenzgründungszuschusses selbstständig machten. 2006 war damit mangels Erfolg schon wieder Schluss.

Steuerfreie Mini-Jobs und vereinfachte Leiharbeit

2003 wurde dann mit den „Gesetzen für moderne Dienstleistungen und Arbeitsmarkt“ die Arbeitsvermittlung umgekrempelt, Mini-Jobs von Steuern und Sozialabgaben befreit und die Leiharbeit vereinfacht. Zudem wurde der Anspruch auf Arbeitslosengeld begrenzt und Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) zusammengefasst. Allerdings nicht auf dem Niveau der vorherigen Arbeitslosenhilfe, wie Hartz angeregt hatte, sondern auf dem niedrigeren Niveau der Sozialhilfe.

All das war heftig umstritten, vor allem bei den Linken in der SPD, bei den Gewerkschaften und vielen Sozialverbänden. Denn mit Hartz IV wurde das Prinzip des „Forderns und Förderns“ etabliert und damit ein Paradigmenwechsel vollzogen: Wer Grundsicherung bekommen will, muss bereit sein, jede denkbare Arbeit anzunehmen, auch unterhalb der eigenen Qualifikation samt schlechterer Bezahlung. Wer das ablehnt, dem drohen Sanktionen. Lange war unklar, ob die umkämpften Pläne im Bundestag und auch im Bundesrat die nötige Mehrheit erhalten würden.

Hans-Jürgen Urban, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, vermutete 2004 hinter der Reformstrategie nur die „Kürzung sozialer Leistungen“ und die „Infragestellung sozialer Rechte“. 2018 sagte er beim DGB-Bundeskongress unter dem tosenden Beifall der Delegierten: „Hartz IV war eine der größten Fehlentscheidungen in der deutschen Sozialpolitik.“ Die Regelsätze seien viel zu niedrig, die Anrechnungsregeln griffen viel zu schnell und viel zu gierig auf die Ersparnisse der Betroffenen zurück.

„Die Marschrichtung stimmt“

Günther Schmid, bis 2008 Direktor der Abteilung „Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung“ am Wissenschaftszentrum Berlin, sagte dagegen: „Die überfällige Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und der Paradigmenwechsel zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik bringen neue Chancen.“ Mit diesen Grundsatzreformen gehe eine graue Zeit der Stagnation und des „Durchwurstelns“ in der Arbeitsmarktpolitik zu Ende. „Mit manchem Detail kann man nicht zufrieden sein - aber die Marschrichtung stimmt.“

Christoph Butterwegge rechnete zum zehnjährigen Bestehen des Hartz-IV-Gesetzes 2015 in einem Buch mit der Reform ab. Deutschland sei durch Hartz IV „zu einer anderen Republik“ geworden, schreibt der Sozialforscher: „Ein ausufernder Niedriglohnsektor, der bald fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasste, gehörte ebenso zu den Folgen wie Entsolidarisierung und die Verbreitung sozialer Eiseskälte.“

Dirk Baas