Berlin (epd). Zu wenig Plätze in den Einrichtungen, fehlendes Personal, unsichere Finanzierung: Die neue Jahresstatistik der Frauenhauskoordinierung für 2021 belegt, dass beim Gewaltschutz in Partnerschaften noch immer viel im Argen liegt. „Es braucht grundsätzlich einen bundeseinheitlichen Rechts- beziehungsweise Finanzierungsrahmen“, nur dann werde sich die Lage dauerhaft bessern, betont Johanna Thie. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Die neue Jahresstatistik der Frauenhauskoordinierung nennt 6.431 Frauen und 7.572 Kinder, die 2021 Schutz im Frauenhaus fanden. Im Durchschnitt wurde dabei auch mehr als ein Kind (1,2) aufgenommen. Das sind erschreckende Zahlen, doch welchen Trend spiegeln sie?
Johanna Thie: Die Statistik erfasst Frauen und Kinder, die Zuflucht finden, und spiegelt nicht die Entwicklung von geschlechtsspezifischer Gewalt von Frauen in Deutschland wider. Dazu liefern die jährlich vom Bundeskriminalamt (BKA) ermittelten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik aber Hinweise. Seit Jahren stieg die Zahl der polizeilich gemeldeten Fälle von Gewalt in Partnerschaften. 2021 gingen die Fälle aber leicht um 2,5 Prozent zurück - von fast 146.700 im Jahr 2020 auf gut 143.000.
epd: Frauenhäuser sind also eigentlich auch vermehrt Kinderschutzhäuser?
Thie: Das belegen die Zahlen eindeutig. Fast drei Viertel der Frauen im Frauenhaus (72 Prozent) hatten 2021 Kinder im Alter bis zu 18 Jahren, von denen etwa ein Viertel nicht im Frauenhaus waren. Betrachtet man die absoluten Zahlen, dann leben mehr Kinder als Frauen in den Frauenhäusern. Dieser Wert ist seit Jahren unverändert hoch.
epd: Reden wir zunächst über die Kinder. Können sie überhaupt in jedem Frauenhaus problemlos angemessen untergebracht und auch betreut werden?
Thie: Alle Frauenhäuser haben den Anspruch Kinder aufzunehmen. Die personellen Ressourcen reichen jedoch oft nicht für Angebote alters- und geschlechtergerechte Beratung zur Bewältigung der Gewalterfahrung aus. Für Kinder und Jugendliche hat Gewalterfahrung erhebliche negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Frauenhäuser müssen deshalb personell in die Lage versetzt werden, von der Krisenintervention bis zu einer traumapädagogischen Unterstützung zu leisten. Davon sind viele Frauenhäuser weit entfernt. Manchmal sind es auch baulich-strukturelle Gründe, weshalb nicht alle Kinder untergebracht werden können: So haben beispielsweise die wenigsten Frauenhäuser Ressourcen für Appartements mit separaten Sanitäranlagen. Das behindert zum Beispiel häufig die Aufnahme älterer Jungen.
epd: Viele Mütter, die ins Frauenhaus kommen, haben vor dem Aufenthalt etwa die Erziehungsberatung genutzt. Werden die professionellen Hilfen fortgesetzt? Und was ist mit Kita- oder Schulbesuch, mal unabhängig von Corona?
Thie: Die professionellen Hilfen vor dem Aufenthalt im Frauenhaus sollten weiterhin genutzt werden - und das ist grundsätzlich auch möglich. Voraussetzung ist natürlich, dass die Kinder und Jugendlichen sicher sind. Das gilt auch für den Kita- und Schulbesuch. Wenn es aufgrund der Gefährdungslage zu einem Wohnortwechsel kommt, ist das meistens mit einem Kita- und Schulwechsel und mit den damit verbundenen Hindernissen wie etwa fehlende Kitaplätzen verbunden. Gerade wenn Frauen dazu gezwungen sind, in ein Frauenhaus in größerer Entfernung zu fliehen, kann das mitunter auch bedeuten, dass sich die Anbindung an andere Hilfeleistungen sich verschlechtert - zum Beispiel für Frauen mit Behinderung, die dann von ihrem etablierten Unterstützungsnetz getrennt sind.
epd: Die Frauenhäuser suchen auch nach Perspektiven für die Gewaltopfer. Dabei geht es oft um neuen Wohnraum. Wie schwierig gestaltet sich diese Suche in Zeiten hoher Mieten?
Thie: Die Wohnraumsuche ist mittlerweile eine der großen Hürden für die Frauen, ein Frauenhaus zu verlassen und gestaltet sich nicht nur in Ballungsgebieten und Großstädten sehr schwierig. Auch im ländlichen Raum konkurrieren Frauen mit anderen Personengruppen um günstigen Wohnraum. Insgesamt steht zu wenig „bezahlbarer“ Wohnraum zur Verfügung, der für die Frauen und auch für die Kinder passend ist.
epd: Und wenn sich der Auszug doch verzögert?
Thie: Das führt zu einer Kettenreaktion: Keine Frau wird vom Frauenhaus auf die Straße gesetzt. Wenn sie bleibt, blockiert sie aber einen Platz für andere Frauen in akuter Notlage. Einige Bundesländer und Kommunen fördern deshalb mittlerweile Projekte, wie zum Beispiel das sogenannte „Second Stage“. Die Idee ist, durch ein wohnraumbezogenes Übergangsmanagement mit begleitender Beratung für Frauen mit ihren Kindern, die keinen anonymen Schutzraum mehr brauchen, Wohnraum zu schaffen beziehungsweise zu suchen. Leider sind solche Angebote noch längst nicht flächendeckend Standard, sondern stark von Ressourcen und gutem Willen in den Regionen abhängig.
epd: 18 Prozent der Frauen gingen nach dem Frauenhausaufenthalt zurück in die gewalt-geprägte Situation, ist in Ihrem Bericht zu lesen. Was heißt das und wo liegen die Gründe dafür?
Thie: Das hat vielfältige Gründe: Wenn Frauen zum Beispiel eine andere Unterstützung als die vom Frauenhaus geleistete benötigen, kann es sein, dass sie nur wegen fehlender Alternativen wieder zurückgehen. Der Wert von 18 Prozent bedeutet aber eine Rückgang in den vergangenen Jahren. Das zeigt, dass die Qualität der Intervention und Unterstützung besser wirkt und der gewünschten Prozess der Veränderung hin zu einer Beendigung der Gewalt in die richtige Richtung geht.
epd: Noch immer gibt es keinen rechtlichen Anspruch auf Schutz und Hilfe bei Gewalt. Wer steht hier auf der Bremse?
Thie: Das ist eine gute Frage. Die Fakten liegen seit langem auf dem Tisch. Es ist wirklich skandalös, dass es jahrelang auf politischer und ministerieller Bundesebene keine wesentlichen Schritte gab. Erst durch den Runden Tisch Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen 2018 wurde erkennbar, dass das Bundesfamilienministerium nach Lösungen sucht. Ende Mai 2021 veröffentlichte es dann endlich ein mit den Ländern und Kommunen abgestimmtes Positionspapier mit vielen wichtigen und richtigen Vorschlägen Seit diesem Sommer begrüßen nun alle Bundesländer das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag, dass mit einem Rechtsanspruch auf Schutz ein niedrigschwelliger Zugang zu Schutz und Hilfe unabhängig von Einkommen, Vermögen, Herkunftsort, Aufenthaltsstatus oder Gesundheitszustand der betroffenen Frauen ermöglicht werden soll. Am 29. November tagt wieder der Runde Tisch. Wir hoffen, dass Länder und Kommunen hier nicht wieder ausbremsen, sondern die Pläne für einen bundesweiten Gewaltschutz endlich umsetzen.
epd: Die Finanzierung von Frauenhäusern ist uneinheitlich, liegt in der Verantwortung der Kommunen. Ist das nicht schon ein Konstruktionsfehler im Hilfesystem, denn die Kommunen und Landkreise schwimmen selten im Geld?
Thie: Sicherlich liegt der Fehler im System. Weil keine bundeseinheitlichen und verbindlichen Vorgaben existieren, erfolgt die Finanzierung aufgrund eines bunten Gemischs verschiedener bundes- und landesrechtlicher Regelungen. Sie basiert auf unterschiedlichsten Modellen und erfolgt in unterschiedlicher Zuständigkeit und Verantwortung. Finanziert wird durch Landesmittel und/oder Eigenanteilen der Landkreise beziehungsweise der kreisfreien Städte, Eigenmittel der Trägervereine, Nutzungsentgelte der Bewohnerinnen, Leistungsansprüche aus dem SGB II oder SGB XII sowie aus Spenden. Es ist existiert ein Flickenteppich mit - mindestens - 16 unterschiedlichen Regelungen. Eine Finanzierung zum Beispiel über freiwillige Leistungen der Kommunen und Kreise hat zur Folge, dass Frauenhäuser nie langfristig gesichert sind, sondern mit jedem Haushalt neu um Ressourcen kämpfen müssen.
epd: Die schwierige Finanzlage der einzelnen Häuser hat Folgen. Eine Aufnahme von Frauen von auswärts ist oft nicht möglich. Welche Lösungen haben Sie für dieses Problem?
Thie: Es braucht grundsätzlich einen bundeseinheitlichen Rechts- beziehungsweise Finanzierungsrahmen. Es gehört zu den Besonderheiten gerade dieser Hilfeleistungen, dass die Betroffenen auch räumlich Abstand von ihren Peinigern bekommen. Einheitliche Rahmenbedingungen über die Gemeinde- und Landesgrenzen hinweg sind aber nur möglich, wenn sie bundeseinheitlich geregelt sind. Das gilt auch für den Aufbau der benötigten Schutzeinrichtungen: ein bundesweites Hilfenetzwerk bedarf einer Rechtsgrundlage, die unabhängig von bisherigen regionalen Prioritäten umgesetzt wird. Ein Bundesgesetz darf außerdem keine Öffnungsklauseln für die Länder enthalten, die den bundeseinheitlichen Rechtsrahmen aushebeln könnten.
epd: Und noch eine Zahl erschreckt bzw. verwundert: 48 Prozent der Frauen strengten keine zivil- oder strafrechtlichen Schritte gegen die Gewalttäter an. Warum?
Thie: Das ist aus meiner Sicht nicht verwunderlich. Zivil- oder strafrechtliche Schritte sind mit einem hohen Aufwand verbunden, finanziell, zeitlich und emotional. Die Verfahren sind aufwändig und müssen begleitet werden. Strafrechtliche Ermittlungsverfahren werden häufig eingestellt. Das ist für Betroffene sehr entmutigend und setzt sie nicht selten erneut der Gefahr aus. Leider verfügen nach wie vor viele Beteiligte solcher Verfahren auf Seiten der Justiz nicht über genügend spezifische Kenntnisse über Häusliche Gewalt. Manche gutgemeinte Strafvorschrift ist außerdem so kompliziert, dass die Ermittlungsbehörden sie nicht wirksam umsetzen können. Deshalb sind dringend verpflichtende Fortbildungen für alle beteiligten Instanzen von Nöten.