

Inklusives Wohnen soll allen Menschen möglich sein, auch Menschen mit Behinderungen, proklamieren der Fachverband für Teilhabe und sieben weitere Organisationen. Sie haben neun Empfehlungen an die Politik herausgegeben. epd sozial dokumentiert den Text:
„Trotz des ausgegebenen Ziels der Ambulantisierung und Dezentralisierung ist die öffentliche Förderlandschaft zu Ungunsten inklusiver Wohnprojekte ausgerichtet. So können aus den Mitteln der Ausgleichsabgabe nur “Wohnstätten für behinderte Menschen" (§ 30 Abs. 1, Nr. 6 SchwbAV) finanziert werden. Dies führt selbst bei der begrüßenswerten Konversion von Komplexeinrichtungen häufig zur Entstehung neuer besonderer Wohnformen mit bis zu 24 Bewohnern und Bewohnerinnen.
Die finanziellen Anreize stehen in Widerspruch zum gesetzten politischen Ziel. Wir fordern, dass der Einsatz öffentlicher Fördermittel konsequent an der Zielsetzung der Inklusion ausgerichtet wird. Sie sollten Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften bei der Schaffung von barrierefreiem und inklusivem Wohnraum unterstützen, Gemeinschaftsräume und Clusterwohnungen fördern sowie flexible Wohnmöglichkeiten passend zu sich wandelnden Lebenslagen anregen. Wichtig ist auch die Kombinierbarkeit verschiedener Förderungen, um eine soziale Durchmischung in Wohnungen, Häusern und Quartieren zu ermöglichen. Hierfür ist es notwendig, dass sozial geförderter Wohnraum auch durch Anbieter der Behindertenhilfe und andere Akteure angemietet und untervermietet werden kann.
Für inklusive Wohnmöglichkeiten müssen neben ausreichend barrierefreiem und bezahlbarem Wohnraum weitere Anforderungen erfüllt sein: Um Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf eine bedarfsgerechte Assistenz und Pflege außerhalb von besonderen Wohnformen zu ermöglichen, werden beispielsweise Clusterwohnungen, Assistenzzimmer und vieles mehr benötigt, die in der Regel nur im Neubau umsetzbar sind. Als gemeinnützig im Sinne der neuen Wohngemeinnützigkeit sollten deshalb insbesondere solche Wohnungsunternehmen gelten, die bezahlbaren und barrierefreien Wohnraum schaffen sowie durch die Kooperation mit sozialen Trägern und privaten Initiativen zur Entwicklung von inklusiven Wohnformen beitragen.
Inklusive Wohnmöglichkeiten entstehen nicht einfach durch neue Gesetze. Wohnungsunternehmen fehlt das Wissen zu den Bedarfen, Anbieter der Behindertenhilfe sind häufig durch ihre bestehenden Strukturen und Verträge gehemmt und private Initiativen mit den komplexen Aufgaben oft überfordert. Damit die Inklusionswende gelingt, braucht es landesweite Fachstellen sowie eine bundesweite Koordination, die in Zusammenarbeit mit den vorhandenen Unterstützungsstrukturen alle relevanten Akteure zu inklusivem Wohnen informieren und beraten. Bestehende Beratungsstellen wie die Fachstelle Wohnen des Landes Baden-Württemberg oder die Regionalstellen von WOHN:SINN in Bremen, Dresden, Köln und München zeigen, dass die Entstehung inklusiver Wohnmöglichkeiten dadurch wirksam erleichtert werden kann.
Viele Menschen mit Behinderung, die beispielsweise in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten, finanzieren ihre Miete über die Grundsicherung. Durch die steigenden Miet- und Baukosten sowie die Inflation ist es vielerorts unmöglich geworden, geeigneten Wohnraum für Menschen mit Behinderung zu finden beziehungsweise zu bauen. Steigende Mietniveaus von 35 Prozent sind keine Seltenheit. Die Differenz zwischen Mietpreis und Angemessenheit der Miethöhe verwehrt Menschen mit Behinderung den Zugang zu Neubauten, obwohl gerade diese häufig barrierearm sind.
Die Bundesregierung will die Grundsicherung durch ein „Bürgergeld“ ersetzen. Der Referentenentwurf hierfür sieht eine Karenzregelung von zwei Jahren vor, in denen die Kosten für Mietwohnungen grundsätzlich als angemessen angesehen werden. Wir halten das für nicht ausreichend und fordern dauerhaft, die Sätze für angemessenen Mietwohnraum bedarfsgerecht aufzustocken oder einen angemessenen Zuschlag für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Soweit kein als angemessen geltender Wohnraum zur Verfügung steht, sollen die tatsächlichen Wohnkosten erstattet werden.
In vielen inklusiven Wohnmöglichkeiten leisten junge Studierende und Auszubildende im Gegenzug für eine reduzierte Miete alltägliche Assistenz für ihre behinderten Mitbewohnerinnen beziehungsweise Nachbarn. Diese Erfahrung baut nicht nur Berührungsängste ab, viele von ihnen entscheiden sich auch für einen Beruf im sozialen Bereich - selbst, wenn sie vor dem Einzug andere Pläne hatten. Ein solches Engagement leistet damit einen nachhaltigen Beitrag zur Nachwuchsgewinnung für Berufe im Pflege- und Sozialsektor.
Konzepte der Alltagsassistenz wie „Wohnen für Assistenz“ brauchen in Deutschland einen verlässlichen rechtlichen Rahmen, der sie im Hilfesystem verankert und sachdienliche Qualitätsanforderungen sicherstellt. Gerade in Hinblick auf den demografischen Wandel muss das Potenzial von ehrenamtlichem und nebenberuflichem Engagement sowie nachbarschaftlicher Hilfe gestärkt werden. Dies darf jedoch keinesfalls zulasten von Qualitätsstandards und der tariflichen Vergütung in der Eingliederungshilfe geschehen.
Mit dem Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe von der Fürsorge zur Selbstbestimmung und Teilhabe ändern sich auch die Anforderungen an Fachkräfte der Behindertenhilfe. In der Praxis inklusiver Wohnformen stehen sowohl die individuelle Assistenz von Menschen mit Behinderung als auch die Moderation des inklusiven Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung in der WG, Hausgemeinschaft oder Nachbarschaft auf der Tagesordnung. Weil inklusive Wohnprojekte häufig einen Teil der Assistenz durch Laienkräfte wie Mitbewohnerinnen, Nachbarn oder Minijobbern abdecken (siehe 5.), sind oft weniger Fachkräfte als in vergleichbaren institutionellen Wohnformen nötig. Gleichzeitig sind die Anforderungen an die leitenden Fachkräfte besonders hoch, da sie den inklusiven Prozess koordinierenden und begleiten müssen.
Gutachten kommen zu dem Schluss, dass hierfür entsprechend akademisch qualifizierte Sozial- beziehungsweise Heilpädagogen notwendig sind. Die besonderen Anforderungen an Fachkräfte im inklusiven Wohnen müssen in Leistungsmodulen und -vereinbarungen der Kostenträger finanziell berücksichtigt werden und in den Lehrplänen von relevanten Ausbildungsstätten und Studiengängen Einzug erhalten.
Die durch das Bundesteilhabegesetz deutschlandweit geschaffenen Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB) sind für viele Menschen mit Behinderung wertvolle Lotsen im regionalen Angebot und eine hilfreiche Unterstützung bei Antragsstellungen. Regelmäßig finden Menschen mit Behinderung jedoch auch durch die Beratung der EUTB kein Wohnangebot, was ihren Wünschen und Bedarfen entspricht, vielfach, weil es kaum inklusive Wohnangebote gibt. In der Folge fühlen sie sich mit ihren Anliegen alleingelassen. Damit Teilhabeberatungsstellen ihrem Anspruch an Empowerment gerecht werden, sollten sie Betroffene und Angehörige weitergehend begleiten, mit Gleichgesinnten vernetzen und die Gründung von Projektgruppen unterstützen. Durch eine entsprechende Ergänzung des Förderauftrags des Bundesarbeitsministeriums kann die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung im Wohnen wirksam gestärkt werden.
Das mit dem Bundesteilhabegesetz reformierte SGB IX will personenzentrierte Leistungen zur Teilhabe sichern und die Entwicklung individueller Assistenzangebote fördern. Menschen mit intensivem Unterstützungsbedarf müssen hierbei umfassend berücksichtigt werden, damit diese inklusiv wohnen können. Dazu ist es notwendig, dass personenzentrierte Assistenzbedarfe anerkannt werden sowie eine Beteiligung der leistungsberechtigten Personen und deren Vertreter:innen am Teilhabe- und Gesamtplanverfahren umgesetzt wird. Die vorhandenen Bedarfsermittlungsinstrumente sollten weiterentwickelt und in Bezug auf die Personenkreise bedarfsgerecht angewendet werden.
Gerade in ambulanten Wohnformen ist die Inanspruchnahme der vollen Leistung der Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe wichtig. Ein Aufrechnen beider Leistungsansprüche beziehungsweise Verschiebungen zwischen den Gesetzesbüchern gilt es zu klären. Leistungsberechtigte Personen sollten ebenfalls über die Nutzung des Persönlichen Budgets beraten werden, bei eingeschränkter Regiefähigkeit sollte eine Budgetassistenz bundesweit einheitlich zur Verfügung stehen und finanziert werden.
Inklusiv zu wohnen ist ein Recht, das jedem Menschen unabhängig von seinem Unterstützungsbedarf zusteht. Gerade Personen, die auch nachts auf Assistenz angewiesen sind, wird ein Leben in einer ambulant begleiteten Wohnform immer wieder durch Kostenträger verwehrt. Dass es funktionieren kann, zeigen Vorreiter wie die Hausgemeinschaft des Vereins inklusiv wohnen Köln.
Eine weitere Hürde in der nächtlichen Assistenz birgt das Arbeitszeitgesetz. Dieses sieht vor, dass bei Arbeitszeiten über sechs Stunden eine Pause von 30 Minuten, über neun Stunden eine Pause von 45 Minuten zu gewähren ist. Gerade bei Nachtwachen ist dies oft schwer oder gar nicht umzusetzen, weil sie in der Regel allein arbeiten, während einer Pause also tatsächlich in Arbeitsbereitschaft sind. Hierfür braucht es eine klare Regelung, die die Rechte der Arbeitnehmerinnen wahrt, aber auch eine Nachtwache außerhalb institutioneller Strukturen erleichtert."