sozial-Recht

Bundessozialgericht

Erholungsurlaub für behinderte Menschen ein "legitimes Bedürfnis"




Urlaub an der Nordsee
epd-bild/Heike Lyding
Behinderte Menschen können für ihren Urlaub Anspruch auf Erstattung der behinderungsbedingten Mehrkosten durch den Eingliederungshilfeträger haben. Die eigenen Urlaubskosten müssen sie aber selbst bezahlen, urteilte das Bundessozialgericht.

Kassel (epd). Behinderte Menschen haben ein „legitimes Bedürfnis“ nach Erholungsurlaub. Ein Eingliederungshilfeträger ist daher verpflichtet, die mit dem Urlaub auftretenden behinderungsbedingten Mehraufwendungen zu übernehmen, stellte das Bundessozialgericht (BSG) in einem am 13. Oktober schriftlich veröffentlichten Grundsatzurteil klar. Die Behörde dürfe die Kostenübernahme nicht mit dem Argument verweigern, dass das Teilhabebedürfnis eines Rollstuhlfahrers wegen seines ehrenamtlichen Engagements ja bereits gedeckt sei und er damit keinen Urlaub zur sozialen Teilhabe in der Gesellschaft mehr benötige, erklärten die Kasseler Richter.

Betreuung durch drei Assistenzkräfte

Der Kläger ist wegen einer sogenannten spinalen Muskelatrophie, eine seltene neuromuskuläre Erbkrankheit, die zu Muskelschwund führt, auf einen Rollstuhl angewiesen. Er lebt in einer eigenen Wohnung und hat drei Assistenzkräfte angestellt, die ihn rund um die Uhr betreuen. Um sein Existenzminimum decken zu können, erhält er Grundsicherung im Alter sowie Sozialleistungen zur Finanzierung seines Pflegebedarfs. Der Rollstuhlfahrer ist ehrenamtlich engagiert und war Behindertenbeauftragter des Landkreises Leipzig.

2016 hatte er eine einwöchige Urlaubsreise mit einem Kreuzfahrtschiff auf der Nordsee gemacht. Die behinderungsbedingten Mehrkosten machte er beim Landkreis als Eingliederungshilfeträger geltend. Dabei ging es um insgesamt 2.015 Euro, die für die Reisekosten der notwendigen Assistenzkraft fällig wurden. Sein Vater hatte das Geld vorgestreckt.

Ohne die Begleitperson hätte er den Urlaub nicht machen können, gab der Rollstuhlfahrer gegenüber dem Landkreis an. Zumal ihm ein Ansparen der Reisekosten für die Begleitperson nicht möglich sei. Er würde dann über die geltenden Vermögensfreibeträge liegen, so dass der überschüssige Betrag auf seine Sozialhilfeleistungen angerechnet würde. Der Erholungsurlaub diene seinem „sozialen Teilhabebedürfnis“. Er habe im Urlaub die Möglichkeit, auch mit nicht behinderten Menschen in Kontakt zu kommen.

Gericht: Zur Erholung genügen Tagesausflüge

Der Landkreis lehnte die Übernahme der Mehrkosten für die Begleitperson ab. Die Reise habe nur zur Erholung und nicht zur Teilhabe am sozialen Leben gedient. Der Teilhabebedarf des Rollstuhlfahrers sei wegen seines wahrgenommenen Ehrenamtes sowieso mehr als gedeckt gewesen. Er könne zur Erholung ja auch Tagesausflüge im Raum Leipzig machen.

Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) urteilte am 29. August, dass die Sozialhilfe nicht die behinderungsbedingten Mehrkosten für die einwöchige Kreuzfahrt übernehmen muss. Zwar könnten im Einzelfall auch Kosten für Urlaubsreisen übernommen werden. Voraussetzung hierfür sei, dass durch den Urlaub die Folgen der Behinderung mindestens gemildert werden oder der Urlaub dazu beiträgt, dass der behinderte Mensch in die Gesellschaft eingegliedert und insbesondere die Begegnung mit nicht behinderten Menschen ermöglicht wird.

Hier sei der Kläger angesichts seines ehrenamtlichen Engagements bereits in die Gesellschaft eingegliedert. Er lebe in einer eigenen Wohnung, werde von Assistenzkräften unterstützt, sei Mitglied in verschiedenen Verbänden und als Behindertenbeauftragter aktiv, so damals das LSG. Die Kreuzfahrt könne kein darüber hinausreichendes Teilhabeziel erreichen.

Selbstbestimmte Freizeitgestaltung

Das BSG hob das LSG-Urteil auf und verwies das Verfahren zurück. Auch behinderte Menschen haben ein „legitimes Bedürfnis“ nach Urlaub. Um am sozialen Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können, können sie sich bei einer angemessenen Urlaubsreise mit einem Kreuzfahrtschiff die Mehrkosten für die Begleitung einer notwendigen Assistenzkraft erstatten lassen. „Die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erfassen auch Leistungen, denen als Teilhabeziel das Bedürfnis nach Freizeit und Freizeitgestaltung zugrunde liegt“, heißt es in dem Urteil.

Nach dem Willen des Gesetzgebers bestimme der behinderte Mensch selbst, wie er seine Freizeit gestaltet. Nur weil der Betroffene sich vielleicht auch ehrenamtlich engagiert, dürfe ihm nicht vorgehalten werden, dass sein Teilhabebedürfnis nun gedeckt sei, so das BSG. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention habe als Ziel festgelegt, dass Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilnahme an Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten ermöglicht werden soll.

Allgemeines Bedürfnis nach Urlaub

Da behinderte und nicht behinderte Menschen in gleicher Weise ein allgemeines Bedürfnis nach Urlaub haben, müsse der Eingliederungshilfeträger nicht den Urlaub auch der behinderten Person finanzieren. „Sehen sich behinderte Menschen dagegen mit besonderen Kosten zur Durchführung der Freizeitgestaltung konfrontiert, sind erforderlich behinderungsbedingte Mehraufwendungen vom Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen umfasst“, urteilte das BSG.

Allerdings müsse die Reise „angemessen“ und die behinderungsbedingten Mehrkosten „notwendig“sein. Maßstab sei hier der nicht-behinderte durchschnittliche Deutsche. Danach sei eine jährlich durchgeführte einwöchige Kreuzfahrtschiffsreise in der Nordsee durchaus üblich. Das LSG muss nun prüfen, ob die Leistungen tatsächlich notwendig waren und ob nicht auch die Kosten für die Begleitperson hätten gesenkt werden können.

Az.: B 8 SO 13/20 R (BSG)

Az.: L 8 SO 6/18 (LSG Chemnitz)

Frank Leth