Frankfurt a.M. (epd). Ulrich Christofczik spricht Klartext: „Das derzeitige Finanzierungssystem der Pflege fährt vor die Wand, auch, weil wir jetzt diese horrend hohen Energiepreise haben.“ Dabei lägen die Vorschläge für eine grundlegende Finanzierungsreform seit Jahren auf den Tisch, betont der Geschäftsführer der Ev. Altenhilfe Duisburg GmbH und Sprecher der Ruhrgebietskonferenz-Pflege. Doch das brauche Zeit. Deshalb müsse jetzt zunächst die Regierung einen Rettungsschirm aufspannen, der Träger und Heimbewohner sofort entlastet. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Die Energiepreise steigen rasant, die Personalkosten in der Pflege nach einer Gesetzesreform ebenfalls. In der Folge erhöhen sich die Eigenanteile der Heimbewohnerinnen und -bewohner ebenfalls deutlich. Das wollen eigentlich weder Politik noch Heimträger. Sind diese Mehrbelastungen derzeit überhaupt zu vermeiden?
Ulrich Christofczik: Nein. Das muss man so klar sagen. Denn das System der Refinanzierung in der stationären Pflege ist komplex. Soll ich mal versuchen, die Strukturen zu erklären?
epd: Gerne.
Christofczik: Der Kostendruck entsteht derzeit in verschiedenen Bereichen, die man aber auseinanderhalten muss. Da ist zunächst das Tariftreuegesetz, das die Lohnkosten nach oben treibt. Darunter leiden vor allem die privatgewerblichen Anbieter, denn die zahlten bislang oft unter Tarif. Dann kommt die Inflation hinzu und die Preisexplosion im Bereich Gas und Strom. Alle drei Faktoren werden im System des SGB XI jährlich in den Pflegesatzverhandlungen austariert. Nun muss man wissen, dass der Kostenträger über einen Sockelbetrag der Pflegeversicherung verfügt, der unverändert ist, ganz egal, wie hoch die Kosten in der Realität steigen. Das heißt, jede Kostensteigerung in den Einrichtungen, egal wodurch sie ausgelöst ist, muss letztlich der Bewohner über seinen Eigenanteil tragen.
epd: Also auch die höheren Personalkosten?
Christofczik: Ja. Die sind auch Bestandteil der Verhandlungen mit den Kostenträgern über neue Pflegesätze. Dort werden neue Pflegesätze vereinbart und die haben die Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtungen zu bezahlen. Wenn sie das nicht mehr können, dann muss die Sozialhilfe, also die Kommunen, einspringen.
epd: Das findet ja in der Regel nur einmal im Jahr statt. Jetzt steigen die Kosten aber massiv an. Muss also ein Heim unter Umständen ein ganzes Jahr warten, um eine bessere Refinanzierung zu erreichen?
Christofczik: Das ist umstritten. Es gibt im SGB XI eine Klausel, die besagt, dass sich, wenn sich wesentliche Veränderungen in der Wirtschaftlichkeit ergeben, auch innerhalb eines Jahres neue Verhandlungen möglich sind. Aber darüber, was als „wesentlich“ anzusehen ist, sind die Pflegekassen und die Träger im Streit. Da bleibt den Heimen oft nichts anderes übrig, als mit den Kosten in Vorleistung zu gehen, auch wenn das oft bis an die Grenze einer Insolvenz reicht.
epd: Das klingt nicht nach einem flexiblen System ...
Christofczik: Das, was wir aktuell beobachten, ist ein seit Jahren bestehendes strukturelles Problem. Träger und Verbände haben diese Gefahr schon lange erkannt. Nämlich dass über steigende Kosten, wie sie etwa als Folge regelmäßiger Tariferhöhungen aber auch durch steigende Sachkosten entstehen, immer automatisch die Eigenanteile der Pflegebedürftigen nach oben gehen. Dazu mal eine Zahl, die die extreme Brisanz belegt: In Nordrhein-Westfalen haben wir den höchsten Satz bei den Eigenanteilen in ganz Deutschland von im Schnitt 2.670 Euro. Das ist ein systemisches Problem der Pflegeversicherung. Da muss dringend eine tragfähige Lösung her.
epd: Wie würden sich diese Selbstkosten noch erhöhen, wenn die hohen Energiepreise und Lohnkosten voll umgelegt würden?
Christofczik: Wir würden dann landesweit im Schnitt auf Eigenanteile um die 4.000 Euro kommen. Dass das nicht geht, ist völlig klar, denn dann kann kein normaler Mensch mehr seine Pflege bezahlen. Das heißt, wenn man das zu Ende denkt, dass jeder Heimbewohner ein Fall für die Sozialhilfe wird. Und das wiederum könnten die Kommunen nicht mehr bezahlen. Genau deswegen wurde ja die Pflegeversicherung gegründet, damit Pflege nicht zum Armutsrisiko wird. Wir sind heute wieder dort, wo wir 1996 waren, als die Pflegeversicherung eingeführt wurde. Es reicht nicht, wie die Ampelregierung im Koalitionsvertrag festgehalten hat, die Entwicklung der Eigenanteile nur „beobachten“ zu wollen.
epd: Sie betreiben 17 Einrichtungen in Duisburg und Umgebung. Wie wirken sich die Kostensteigerungen auf die Bewohner aus?
Christofczik: Da muss ich etwas ausholen. Wir haben gerade Pflegesatzverhandlungen für zwei Heime hinter uns. Dort haben wir die Energiekostenfrage natürlich thematisiert. Doch klar ist auch, wenn wir die realen Kosten in voller Höhe an die Kasse weitergeben wollten, würde das scheitern. Das könnten die niemals erstatten. In einer der beiden Einrichtungen haben wir jetzt in dem Teilbudget Energiekosten einen 30-prozentigen Anstieg verhandelt. Der wirkt sich direkt auf die Pflegesätze aus. Insgesamt kommen dort sieben Prozent höhere Eigenanteile auf die Bewohner zu.
epd: Aber das reicht doch längst nicht, damit sich das Heim refinanzieren kann ...
Christofczik: Aber es geht nicht anders, weil wir wissen, dass die gewaltigen Zusatzkosten nicht auf die Bewohner umgelegt werden können. Das können die oder ihre Angehörigen schlicht nicht bezahlen. Deswegen fordern wir ja einen staatlichen Rettungsschirm, der schnell kommen muss, sonst drohen wirklich Insolvenzen von Heimen. Wenn ich die Signale aus Berlin richtig deute, kommt dort Bewegung in die Sache. Das ist eine unverzichtbare Hilfe, die übrigens die gesamte Sozialwirtschaft fordert, von den Kliniken über Behindertenheime bis hin zu Kitas. Andernfalls gehen die gemeinnützigen Unternehmen in die Knie, die ja keine Rücklagen haben.
epd: Reden wir über direkte Zahlungen oder über eine Deckelung der Kosten für Strom und Gas, wie sie auch für die privaten Haushalte kommen soll?
Christofczik: Ich befürworte auch die Deckelung beim Verbrauch. Wir müssen einfach geschützt werden vor immer weiter nach oben kletternden Preisen. Mit einer Deckelung wäre auch erreicht, dass die Energiekosten wieder sauber kalkulieren kann. Eine Geldzahlung je Heim wäre vermutlich mit einem großen administrativen Aufwand verbunden, darin sehe ich wenig Sinn.
epd: Das bestehende System ist gescheitert. Wie sollte die langfristige Lösung des Problems aussehen?
Christofczik: Da verrate ich gar nichts Neues. Das derzeitige Finanzierungssystem fährt vor die Wand, auch, weil wir jetzt diese horrend hohen Energiepreise haben. Die Vorschläge für eine grundlegende Pflegefinanzierungsreform liegen seit Jahren auf den Tisch. Aber die vorherige Bundesregierung hat sich unter ihrem Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nur zu einer Mini-Reform durchringen können, die völlig an der Realität verbeigeht.
epd: Sie meinen die finanziellen Entlastungen, gestaffelt nach der Aufenthaltsdauer in einem Heim?
Christofczik: Ja. Das war ein völlig verkorkster Ansatz. Denn es ist klar, dass die wenigsten Heimbewohner eine spürbare Entlastung erfahren, denn sie erleben kein drittes Jahr in einer Pflegeeinrichtung. Die Mortalitätsrate verhindert, dass sie eine Förderung von 75 Prozent ihrer Kosten bekommen.
epd: Aber zurück zu den Lösungsversuchen ...
Christofczik: Die Diakonie, der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege, viele Verbände und Forscher sind sich einig, dass man einen radikalen Wechsel braucht. Die Eigenanteile der Bewohner müssen gedeckelt werden und alle steigenden Kosten, wie jetzt durch die Energiepreise ausgelöst, hat dann die Pflegeversicherung zu bezahlen. Das ist ein Modell, das in der Branche unter „Sockel-Spitze-Tausch“ firmiert. Und es ist die einzige Möglichkeit, der Probleme bei der Finanzierung Herr zu werden, vor allem, weil die Demografie die Lage noch zuspitzt. Es gibt ihn längst, den pflegepolitischen Aufschrei, man muss ihn nur hören wollen.
epd: Das muss ja Gründe haben, warum die Politik bislang die Probleme nicht angeht. Wie lautet Ihre Erklärung?
Christofczik: Meine Erklärung lautet: Das kostet viel, viel Geld. Denn anders als über Steuergelder könnte man diese immense Umverteilung nie hinbekommen, nämlich von den Heimbewohnern und den Sozialhilfeträgern weg auf den zahlenden Fiskus, der die Pflegekassen ja in ganz anderen Dimensionen unterstützen müsste. Und da stellt sich die Frage, ob das Geld dafür überhaupt vorhanden wäre.
epd: Wäre es das nicht, wenn man eine Bürgerversicherung für die Finanzierung der Pflege hätte?
Christofczik: Ja. Wenn man eine viel breitere gesamtgesellschaftliche Einnahmebasis der Finanzierung durch Beiträge auf Mieteinnahmen, Aktienerlöse oder Erbschaften hätte, würde das wohl funktionieren. Aber man muss klar sehen, hier geht es um Verteilungskämpfe, die im Hintergrund der politischen Bühnen stattfinden, und deswegen geht die Regierung da nicht ran. Vor allem die FDP steht auf der Bremse und hat sich leider Gottes durchgesetzt.
epd: Kann denn die prekäre Situation, wie sie sich aktuell darstellt, nicht doch dazu führen, dass noch einmal Bewegung in diese Debatten kommt?
Christofczik: So zynisch wie das klingen mag, ich habe wirklich die Hoffnung, dass nun auch der letzte Politiker, die letzte Politikerin den Ernst der Lage erkennt und sich für Reformideen interessiert. Dass ihnen klar wird, dass es so nicht weitergeht. Es gibt überhaupt kein Erkenntnisproblem, sondern nur ein Umsetzungsproblem.