Frankfurt a.M. (epd). Fritz Schäffer, erster bayerischer Ministerpräsident nach dem Zweiten Weltkrieg, war überzeugt: Es muss in der Stunde Null im kriegsverwüsteten Deutschland eine Umverteilung des Vermögens geben. Freunde machte sich der CSU-Politiker mit der Idee von Sondersteuern nicht. Und doch kam es in der jungen Bundesrepublik zur größten Umverteilungsaktion, die je in einer freien Marktwirtschaft stattgefunden hat: Nach heutigem Geldwert wurden 60 Milliarden Euro aus Vermögens-, Hypotheken- und Kreditgewinnabgaben eingezogen und an Millionen Mittellose ausgezahlt. Vor 70 Jahren, am 1. September 1952, trat das Gesetz zum sogenannten Lastenausgleich in Kraft.
Die Idee hat offenbar wenig von ihrer sozialpolitischen Strahlkraft eingebüßt. Denn in der Debatte, wie der Staat die hohen Corona-Kosten stemmen soll, tauchte auch die Forderung nach einer neuen Sondersteuer nach dem historischen Vorbild des Lastenausgleichs auf.
Schäffer, auch erster Finanzminister der Bundesrepublik, wollte eine sozial und politisch befriedete neue Gesellschaft aufbauen - und setzte auf die Solidarität der Bürger: „Es ist natürlich, dass man daran denkt, dass derjenige, der im Krieg Vermögensschaden erlitten hat, sich an den wendet, der das Vermögen im Krieg behalten hat“, erklärte der Minister damals.
Leid, Elend und Verzweiflung waren allgegenwärtig. Im Land lebten unmittelbar nach Ende des Krieges 15 Millionen Menschen, die oft nicht viel mehr besaßen als ihre zerschlissene Kleidung: Bombenopfer, Heimatlose, ehemalige KZ-Häftlinge. Allein zwölf Millionen Menschen suchten als Vertriebene aus den einstigen deutschen Ostgebieten eine neue Heimat im Westen. 18 Millionen Menschen, also mehr als ein Drittel der damaligen Bevölkerung der Bundesrepublik, hatten Ansprüche auf Zahlungen aus dem Lastenausgleich.
Für Horst Waffenschmidt (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesinnenminister zwischen 1982 und 1997, war der Lastenausgleich „die erste große Bewährungsprobe, die der in Deutschland neu geschaffene, freiheitliche und soziale Rechtsstaat zu bestehen hatte“. „Er hat diese Probe bestanden“, sagte Waffenschmidt 1987 zum 35. Jahrestag des Inkrafttretens des Gesetzes. Der Lastenausgleich bleibe „ein eindrucksvolles Beispiel der Solidargemeinschaft unseres Volkes“. Ähnlich urteilte auch der Historiker Rudolf Morsey: „Der Lastenausgleich minderte ein bedrohliches soziales Spannungspotenzial.“
Zunächst wurde aus Zeitgründen das „Soforthilfegesetz“ verabschiedet, das die größte Not der Geschädigten lindern sollte. Erhoben wurde eine Steuer von drei Prozent auf das vorhandene Eigentum, die sofort fällig war. „In den drei Jahren von 1949 bis zum Inkrafttreten des Lastenausgleichsgesetzes wurden bereits 6,2 Milliarden DM ausgegeben“, berichtete Henning Bartels, Vizepräsident des Bundesausgleichsamtes, das für den Lastenausgleich zuständig war.
Der Bundestag verabschiedete das „Gesetz über einen allgemeinen Lastenausgleich“ gegen die Stimmen von SPD und KPD. Die SPD begründete ihre Ablehnung vor allem mit der verhältnismäßig geringen Abschöpfung der wirklich großen Vermögen. Denn wer etwa ein Haus besaß, das am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes 100.000 Mark wert war, sollte bis 1979 50.000 Mark Vermögensabgabe entrichten.
Fast drei Millionen betuchte Bürger zahlten in den Ausgleichsfonds ein. Sie hatten die Hälfte ihres Vermögens abzutreten, gestreckt auf 30 Jahre in vierteljährlichen Tranchen von rund 0,4 Prozent. Von einer Teilenteignung konnte nicht die Rede sein, von der Vermögenssubstanz ging kaum etwas verloren, was auch SPD-Parteichef Erich Ollenhauer kritisierte. Bei der Verabschiedung des Gesetzes sagte er: „Es ist in Wirklichkeit die Krönung dieser Politik der Bevorzugung des großen Privatbesitzes. Das Resultat dieser Politik ist, dass es heute in keinem der Krieg führenden Länder in Westeuropa einen so aufreizenden Gegensatz zwischen größtem Luxus und erbarmungswürdiger Armut gibt wie hier in der Bundesrepublik.“
Weil der Staat wegen Corona und auch als Folge des Ukraine-Krieges viel Geld braucht, ist auch heute wieder ein Lastenausgleich in der Debatte. Doch einen solchen Schritt halten viele Experten für völlig überzogen - nicht zuletzt aus verfassungsrechtlichen Gründen. Auch der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, ist strikt dagegen. Er warnt, „die Bürger nicht durch historische Irrlichter zu verunsichern“. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages urteilte, dass mit Blick auf den Lastenausgleich (LAG) die Ausgangslage 1952 und die aktuelle nicht vergleichbar seien: „Die Vermögensabgabe nach dem LAG bietet sich nicht als Vorbild für die heutige Situation an.“
Einen anderen Blick auf die Lage hat der Historiker Heinrich August Winkler. Dem „Tagesspiegel“ sagte er im März 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie: „Deutschland wird um eine Umverteilung großen Stils nicht herumkommen - einen Lastenausgleich zwischen denen, die unter den materiellen Folgen dieser Krise weniger zu leiden haben als die, deren berufliche Existenz auf dem Spiel steht.“ Und: „Die Dimensionen dieser Umverteilung werden die des historischen Lastenausgleichs zugunsten der Heimatvertriebenen und Ausgebombten in der 'alten' Bundesrepublik weit übertreffen.“