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Zuwanderung

Gastbeitrag

Kein Flüchtling darf in Vergessenheit geraten




Katja Glybowskaja
epd-bild/AWO Thüringen
Flüchtlinge aus der Ukraine bekommen relativ schnell Hilfen. In der Folge ist eine Zweiklassen-Gesellschaft der Geflüchteten entstanden. Katja Glybowskaja, Geschäftsführerin des AWO Landesverbandes Thüringen, mahnt Verbesserungen insbesondere für Menschen aus Afghanistan an.

Sie kamen nur wenige Tage nach dem Beginn des verurteilenswerten, völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine: erste Meldungen von Selektionsvorgängen an Geflüchteten, insbesondere an der ukrainisch-polnischen Grenze. Tweets und Videos in Social Media häuften sich: Ein Sprecher des südafrikanischen Außenministeriums twitterte, dass er Kenntnis darüber habe, dass in der Ukraine studierende Südafrikanerinnen und Südafrikaner und andere People of Colour an der Grenze schlecht behandelt würden. Indische Studierende berichteten in sozialen Netzwerken, dass ihnen der Zutritt zu den rettenden Zügen in den Westen verwehrt worden sei. Das oppositionelle ungarische Nachrichtenportal 444.hu kritisierte in einem Artikel, dass Ungarn Geflüchtete aus Drittstaaten separat unterbrachte.

Keine dieser Meldungen passt in die Erzählung vom solidarischen Europa, vom friedlichen Westen, der die schutzsuchenden Menschen aus der Ukraine mit offenen Armen auffängt. Ebenso wenig die Hinweise darauf, dass diese Zweiklassengesellschaft der Flüchtlinge auch in Deutschland weitergeführt werden könnte. Und nicht nur in Polen oder Ungarn.

Ergreifende Solidarität und Unterstützung

Missverstehen Sie mich nicht: Die unbürokratische Hilfe, die Solidarität für die Menschen aus der Ukraine, die mit der ersten Angriffsmeldung einsetzte, ist absolut ergreifend und beispiellos gewesen. Was in kürzester Zeit umgesetzt wurde und auch noch wird - auch durch viele Menschen, Haupt- wie Ehrenamtliche beeindruckt und bewegt mich noch immer sehr. Sachspendentransporte, Wohnangebote, Mitfahrmöglichkeiten, öffentliche Solidaritätsbekundungen und insgesamt eine unglaubliche Koordinierungsleistung vieler gesellschaftlicher Akteure haben bewiesen, wozu mitfühlende Menschen angesichts von Notlagen für andere zu leisten im Stande sind.

Die Solidarität war, wie erwähnt, beispiellos und so noch nie dagewesen. Auch 2015 nicht. Und hier müssen wir uns hinterfragen: Gibt es ihn, den Unterschied zwischen den Geflüchteten aus der Ukraine und jenen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea in unseren Köpfen? Und woher kommt er - ist es die geografische Nähe, der uns vertrautere Kulturkreis oder einfach, dass wir den Ukraine-Krieg besser zu verstehen glauben als vermeintlich Nahost-interne Konflikte? Oder spielt hier wieder der Topos vom allein reisenden jungen Mann eine Rolle?

Mahnende Stimmen aus anderen Teilen der Welt

Als AWO-Landesgeschäftsführerin bin ich Anfang März das erste Mal persönlich in Berührung mit diesem Missverhältnis gekommen. Unter den Facebook-Posts zur Ukraine-Hilfe der AWO Thüringen meldete sich immer wieder ein junger Mann aus Afghanistan mit Kommentaren zu Wort. Er erinnerte an das vergleichsweise kleine Echo, das auf das große Leid der Afghaninnen im Nachgang des Abzugs der westlichen Truppen aus dem gebeutelten Land folgte, und an die immer noch unsichere, missliche Situation vieler Menschen aus Afghanistan in Deutschland. Das ist nicht zu leugnen.

Es ist absolut begrüßenswert, dass es den Ukrainerinnen und Ukrainern mit dem Aufenthalt zum Beispiel in Deutschland so leicht wie möglich gemacht wird. Durch die Anwendung der sogenannten EU-Massenzustrom-Richtlinie kann Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine in der ganzen EU ein humanitärer Aufenthaltstitel erteilt werden, ohne dass sie zuvor ein Asylverfahren durchlaufen müssen. Damit haben sie umgehend Zugang zu Arbeit, Bildung und Sozialleistungen.

Andererseits: Immer noch sind Menschen jeden Tag in Seenot auf dem Mittelmeer, weil sie vor Verfolgung, Krieg und Armut zu uns flüchten. Immer noch fehlt vielen Schutzsuchenden, die es bis hierher geschafft haben, eine dauerhafte Bleibeperspektive und die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Teilhabe durch Arbeit, Bildung und Sozialleistungen. Nicht erst seit Pandemie-Beginn, die vielerorts mit monatelang geschlossener Ausländerbehörden einherging, warten Asylbewerberinnen und Asylbewerber unerträglich lang auf die Entscheidung, ob und wann ihr Aufenthaltstitel verlängert wird. Hier bedarf es dringend einer Reform. Und zwar nicht nur, weil die Integration von Menschen aus Drittstaaten sich langfristig positiv auf das massive Fachkräfteproblem auswirken wird. Sondern vor allem zum Wohle und für die Gesundheit der Schutzsuchenden.

Es fehlt an Migrationsberatung

Menschen, die Flucht oder sogar Folter erlebt haben, brauchen Ruhe, Sicherheit und Struktur. Internationale Studien weisen darauf hin, dass sie zehn Mal häufiger an Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung leiden als Menschen, die das nicht erleben mussten - was sich oft erst Monate oder Jahre später manifestiert. Unsere Migrationsberaterinnen und -berater erleben das in ihrer täglichen Arbeit.

Was es weiter braucht, sind ausreichend Beratungsangebote für alle Schutzsuchenden in Deutschland. Schon vor der Pandemie gab es in vielen Regionen Deutschlands nicht ausreichend viele Anlaufstellen zur (Jugend)Migrationsberatung - Thüringen weist hinsichtlich seiner Beratungslandschaft besonders viele weiße Flecken auf. Der Ukraine-Krieg verschärft die Knappheit der Beratungstermine. Gleichzeitig stehen die Träger von Beratungsstellen vor dem Problem, dass die Ausstattung mit Ressourcen ohne erheblichen Eigenfinanzierungsanteil nicht ausreicht.

Aber natürlich gibt es den erwähnten Fachkräftemangel, der uns Vertretern aus der Sozialwirtschaft beim Thema Integration reflexartig an die personellen Probleme in Pflege, Betreuung & Co. denken lässt. Thüringen ist bisher kein Bundesland mit signifikanten Zuzügen aus dem In- oder Ausland gewesen. Dem gegenüber stehen demografische Entwicklungen, die das Problem stetig verschärfen: Immer mehr Menschen mit Pflegebedarf kommen auf immer weniger Berufstätige.

Bleiberecht nach Duldung ein guter Vorstoß

Laut einer Hochrechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft wird die Anzahl der Pflegebedürftigen in Thüringen bis 2040 um über 30.000 Personen ansteigen. Gleichzeitig sind bereits jetzt mehr als 40 Prozent der Pflegebeschäftigten über 50 Jahre alt - Trend ebenfalls steigend. Das Potenzial, das in zuwandernden Menschen liegt, die längerfristig bei uns bleiben, können wir nicht ignorieren. Der aktuelle Vorstoß der Bundesregierung, dass zukünftig aus fünf Jahren Duldungsstatus ein dauerhaftes Bleiberecht resultieren soll, ist für Arbeitgeber - und vor allem die betroffenen Menschen selbst - ein gutes Signal.

Dass der Mensch sich schnell an einen Umstand gewöhnt und manchmal noch schneller vergisst, bemerken wir derzeit aber auch. Dass es in Europa einen Angriffskrieg gibt, droht nun nach über drei Monaten Alltag zu werden. Dass Ukrainer teilweise bereits genauso lang in unseren Schulturnhallen ausharren, ist vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gar nicht mehr bewusst. Vor allem die Menschen, die schon zuvor sehr engagiert waren, kümmern sich um Mutter-Kind-Nachmittage und Begegnungscafés für sie. Ansonsten haben Lebensmittel- und Benzinpreise den inhaltlichen Diskurs übernommen. Wir dürfen uns an das Elend nicht gewöhnen - weder an das der Ukrainer noch an das der Menschen in anderen Teilen unserer Welt.

Katja Glybowskaja ist Geschäftsführerin des AWO Landesverbandes Thüringen.