Wien, München (epd). „Fluchtparadox“ ist der Titel des neuen Buchs der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien. Es soll im August erhältlich sein. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) analysiert sie die Widersprüche der Asylpolitik in Europa. Die Fragen stellte Oliver Marquardt.
epd sozial: Ihr kommendes Buch trägt den Titel „Fluchtparadox“. Was läuft schief in der europäischen Migrationspolitik?
Judith Kohlenberger: Man könnte vielleicht umgekehrt fragen, was eigentlich nicht schiefläuft. Dann wäre ich schneller fertig. Aber im Ernst: Der Titel meines Buches bezieht sich auf die Widersprüchlichkeiten, einerseits in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, andererseits aber auch - und das ist oft viel schwerer greifbar - auf die Narrative und Diskurse, die Vorstellungen und die Erwartungen, die Aufnahmegesellschaften von beziehungsweise an Geflüchtete haben - die diese aber gar nicht erfüllen können, eben weil sie so widersprüchlich sind. Solange wir uns innerhalb dieser Widersprüchlichkeiten bewegen, solange wir in diesem Paradox gefangen sind, ist eine Lösung der „Flüchtlingsfrage“ gar nicht möglich. Dann kann man zwar Symptombewältigung betreiben, die teilweise auch wichtig ist, zum Beispiel in Form von humanitärer Hilfe. Aber der große Wandel wird dadurch eben nicht entstehen.
epd: Was wäre denn der große Wandel?
Kohlenberger: Die Funktion eines Paradoxes ist ja, zunächst einmal diese Widersprüchlichkeiten offenzulegen und dadurch auch zu einer tieferen Wahrheit zu gelangen. Also zu erkennen, dass wir es mit einem System zu tun haben, das fast schon absurd anmutet. In so einer Situation, die von vielen Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten charakterisiert ist, ist es umso wichtiger, Verantwortung zu übernehmen, zu verantwortende Entscheidungen zu treffen. Stattdessen läuft es oft auf eine ständige Verlagerung hinaus: National könne man nichts machen, weil es ein europäisches Thema sei, europäisch könne man nichts machen, denn Ungarn sei dagegen, und so weiter. Verantwortung auf jeder Ebene wahrzunehmen, wäre aber der erste Schritt.
epd: Und der zweite?
Kohlenberger: Da lehne ich mich an den polnischen Philosophen Zygmunt Bauman an, der schon in seiner Postmodernen Ethik davon gesprochen hat, dass es zentral sei, das „Antlitz des Anderen“ immer vor sich zu haben, als Grundvoraussetzung für Empathie. Wobei Empathie da fast schon politisch zu verstehen ist. Es geht nicht um persönliches Mitgefühl, sondern um ein sich Hineinversetzen in jemand anderen. Interessanterweise hat das Hannah Arendt, auf die ich mich auch sehr viel beziehe, auch gesagt. Die Möglichkeit, im Sinne des Bösen zu handeln, liegt darin, dass ein Unvermögen besteht, eine Unfähigkeit, eine Dummheit sogar, sich in den anderen hineinzuversetzen. Und Empathie, glaube ich, ist besonders schwierig beim Thema Flucht und Vertreibung, weil die Sprache, die Art und Weise, wie wir damit umgehen, fast schon per se dehumanisierend geworden ist.
epd: Was meinen Sie genau?
Kohlenberger: Wir sprechen immer von Wellen oder Flut, von Bedroht- und Überrollt-Werden. Und wir lagern aus, beispielsweise an Asylzentren in Drittstaaten. All das ist ja dazu gedacht, die Menschen fernzuhalten, außerhalb der Grenzen der EU. Aber außerhalb der Grenzen des Menschlichen an sich. Also nicht zu nahe heranzulassen: Räumlich, aber auch metaphorisch.
epd: Ist es ein Problem, dass politische Akteurinnen und Akteuren mit einer verantwortungsbewussten Migrationspolitik bei Wählerinnen und Wähler vermutlich wenig zu gewinnen haben?
Kohlenberger: Ich glaube, das sind zwei Ebenen. Einerseits ist es widersprüchlich, dass fast alle Regierungschefinnen und -chefs der EU vorgeben, sie wären an einer Lösung der sogenannten „Flüchtlingsfrage“ interessiert. Aber wenn sie dann wieder aus Brüssel nach Hause zurückkehren und Innenpolitik betreiben, dann gibt es einige, die es sehr gut verstehen, aus dieser ungelösten Flüchtlingsfrage innenpolitisches Kleingeld zu schlagen. Orban ist da das klassische Beispiel.
epd: Was wäre die zweite Ebene?
Kohlenberger: Dahinter steht noch eine viel größere Widersprüchlichkeit, denn Migrations- und Fluchtbewegungen, wie wir sie jetzt sehen, hängen mit Globalisierung und Kolonialisierung zusammen, aus denen Europa bis dato immer nur als der große Gewinner hervorgegangen ist. Es gibt dieses geflügelte Wort in der Migrationsforschung: Migranten sind sichtbar gewordene Globalisierung. In ihnen zeigen sich die direkten und indirekten Auswirkungen von Konflikten, die wir selbst miterzeugt haben, durch Ausbeutung und kriegerische Konflikte. Das aber blenden wir meist aus.
epd: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die vergleichsweise großzügige Behandlung ukrainischer Geflüchteter?
Kohlenberger: Was deutlich geworden ist: Man kann jetzt nicht mehr so einfach sagen, das Boot wäre voll. Das haben wir bis zum 23. Februar immer gehört, und plötzlich war es dann doch nicht voll, wir haben doch noch ein Platzerl gefunden. Womit ich aber zunehmend ein Problem habe, ist dieses Erste Klasse/Zweite Klasse-Flüchtlings-Narrativ, weil es suggeriert, die Ukrainerinnen und Ukrainer würden in der Business Class mit sämtlichen Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten sitzen. Das ist wirklich nicht der Fall. Schon deswegen, weil sich die Aufnahme in vielen europäischen Ländern mittlerweile recht schwierig gestaltet. Was wiederum damit zusammenhängt, dass ein Land wie Polen etwa sich jahrelang nur gegen die Aufnahme von Geflüchteten gestemmt hat und deshalb über keine Systeme verfügt, die die vielen Ankünfte nun schultern können. Was aber zutrifft, ist, dass man eine spezielle Schutzkategorie nur für ukrainische Vertriebene geschaffen hat.