Hannover (epd). Frank Meyer hat nur einen kurzen Weg in die Sprechstunde von Hans Stöckmann. Eben noch hat der ehrenamtliche Mitarbeiter des Tagestreffs der Caritas Hannover im Speiseraum nach dem Rechten gesehen. Jetzt sitzt er im Patientenzimmer gleich nebenan dem Arzt gegenüber. Stöckmann erkundigt sich nach seinem Befinden und legt ihm eine Blutdruckmessmanschette um den Unterarm. „Heut geht es mir ganz gut“, sagt Meyer und schiebt mit einem Schmunzeln hinterher: „Aber jetzt steigt der Blutdruck.“
Frank Meyer hat 14 Jahre auf der Straße gelebt. 14 Jahre lang war er nicht krankenversichert und bei keinem Arzt, bis er 2021 mit Nierenversagen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. „Ich hatte meinen eigenen Kopf“, sagt er. „Ich habe alles so durchgestanden.“ Inzwischen ist Hans Stöckmann nicht nur der Arzt seines Vertrauens, sondern auch so etwas wie ein Kollege. Der 72-jährige Mediziner arbeitet ebenfalls ehrenamtlich bei der Caritas. Insgesamt knapp 20 Ärztinnen und Ärzte haben sich wie er mittlerweile einer von der früheren Vorsitzenden der Bezirksstelle Hannover der Ärztekammer Niedersachsen, Cornelia Goesmann, begründeten Initiative angeschlossen.
Seit 20 Jahren kooperiert dabei die Bezirksstelle mit Diakonie und Caritas und unterstützt sie bei der medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen. Am 18. Mai soll der Jahrestag gefeiert werden. In Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung sind die Behandlungsmöglichkeiten der Wohlfahrtsverbände als Institutsambulanz anerkannt worden, wie Goesmanns Nachfolger Thomas Buck erläutert. Die Ärztinnen und Ärzte könnten so einen Teil der Leistungen mit den Kassen abrechnen. Das entsprechende Geld spendeten sie für das Projekt. „Ein weiterer Vorteil ist die Rechtssicherheit bei der Verschreibung von Medikamenten“, sagt der Kinderarzt. Zudem leiste die Ärztekammer Lobby- und Vernetzungsarbeit.
Noch vor seiner Sprechstunde bei der Caritas war Hans Stöckmann gemeinsam mit der medizinischen Fachangestellten Tanja Prescher und Fahrer Jens Konschara vier Stunden lang mit der Straßenambulanz unterwegs. Mit dem zur Praxis umgebauten Kleintransporter haben sie Treffpunkte und Unterkünfte von Wohnungslosen angefahren. „Der regelmäßige Kontakt ist wichtig“, sagt der Arzt. „Man kann schon viel ablesen, am Gang eines Menschen, daran, wie er sich bewegt.“
Es sind Suchterkrankungen und die Folgeschäden, mit denen viele Patienten zu ihm kommen, Wundinfektionen und Herz-Kreislaufprobleme. Diabetiker behandelt der Internist anders als in seiner früheren Praxis in Hildesheim dagegen kaum. „Träges Leben im Überfluss, das spielt hier nicht so die Rolle“, sagt Stöckmann. Er wirft einen Blick auf die Beine von Frank Meyer, um Wassereinlagerungen auszuschließen. Prescher notiert das Ergebnis der Untersuchung.
In 20 Jahren hat die Ärztekammer über ihr Projekt auch anonymisierte Daten von rund 46.000 Patientenkontakten zusammengetragen, um das Angebot zu analysieren. Allein die Caritas hat im vergangenen Jahr laut Koordinatorin Monika Nordhorn rund 2.000 Patienten bei 4.000 Terminen behandelt. Auch psychische Probleme nehmen zu, wie sie berichtet. Die Ängste zu Beginn der Corona-Pandemie hätten dies verschärft. „Wie geht Lockdown, wenn ich kein Zuhause habe?“ Die Praxis im Tagestreff wird unter anderem auch von einem Psychiater und Gynäkologinnen unterstützt.
Anders als früher Frank Meyer sind dort die meisten Patienten krankenversichert. „Es sind auch viele arme Menschen“, erläutert Nordhorn. Zuzahlungen wie fünf Euro pro Medikament könnten sie sich nicht leisten. Auch dabei helfen die Caritas und ein Spendenfonds. Doch das reiche nicht, mahnt der Mediziner Buck. „Die Gesellschaft muss noch mehr helfen und die Politik auch. Projekte wie Krankenwohnungen müssen selbstverständlich sein.“
Für Frank Meyer bedeutet der Tag, an dem er ins Krankenhaus kam, eine Wende in seinem Leben. Nach der Entlassung zog er zunächst in eine Krankenwohnung für Wohnungslose der Caritas, inzwischen lebt er in einer WG, „mit zwei netten Kollegen“, wie er sagt. Seit einem Jahr hat er keinen Alkohol mehr getrunken. „Mir geht es besser, tausend Prozent“, unterstreicht er. Regelmäßig geht er zum Facharzt für Nierenkrankheiten. Doch auch in Stöckmanns Sprechstunde kommt er weiter. „Hier nehmen sich die Menschen Zeit“, sagt er. „Hier gibt es mehr als nur Pillen.“