Berlin, Frankfurt a.M. (epd). „Wir in der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal haben 30 Menschen mit Behinderung aus der Ukraine aufgenommen“, berichtet Sprecher Wolfgang Kern im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eines von vielen Beispielen, wie die Träger der Behindertenhilfe selbst aktiv werden, ihre Kontakte nutzen und die Betroffenen auf zum Teil abenteuerlichen Wegen nach Deutschland holen. Zentral gesteuert ist dieses Engagement nicht. Kern sieht das ganz pragmatisch: „Krisen sind dadurch gekennzeichnet, dass nach einer chaotischen Phase Strukturen aufgebaut werden. So ist es auch jetzt.“
In Lobetal, das zur von Bodelschwinghschen Stiftung Bethel gehört und seit über 115 Jahren in der Behindertenhilfe aktiv ist, seien Menschen aus den Partnerschaften des Vereins „Ukraine-Hilfe Lobetal“ untergebracht worden, aber auch Flüchtlinge mit Behinderung oder ältere Pflegebedürftige, die auf anderen Wegen nach Lobetal in Bernau bei Berlin kamen.
Mit wie vielen Betroffenen und ihren Betreuern muss man noch rechnen, falls der Krieg andauert? „Das lässt sich schwer sagen. Es werden viele, sehr viele sein“, vermutet Kern. Es kämen zunehmend Menschen mit Hilfebedarf. „Hier braucht es, zumindest für die Regelbetreuung, die Professionalität und die Qualität, die wir behinderten und pflegebedürftigen Menschen entgegenbringen.“
Und genau das ist das Problem. Anders als Einzelpersonen oder geflüchtete Frauen mit Kindern brauchen etwa schwerst mehrfach Behinderte oder Menschen mit geistiger Einschränkung hoch professionelle Unterstützung. Und die kann nur ein spezialisierter Träger bieten. Jörg Markowski, Referent beim Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB): „Viele Einrichtungen haben sich bereits selbst auf den Weg gemacht und Unterstützung organisiert. Das ist großartig.“ Doch offen sei, wie viele Betroffene bereits sicher untergebracht sind, sich erholen und zur Ruhe kommen können. „Unser Verband sammelt Infos zu den Aktivitäten nicht systematisch.“
Nach Angaben der Bundesvereinigung Lebenshilfe scheint es derzeit genügend Unterkünfte zu geben, „die allerdings nicht alle unbedingt für eine mittelfristige Unterbringung geeignet sind, weil es sich häufig um ehemalige Wohnstätten handelt, bei denen für eine Nutzung noch Arbeiten erforderlich wären“, sagte Geschäftsführerin Jeanne Nicklas-Faust. Viele Aufnahmeplätze seien von Anfang an nur für eine Übergangsfrist von Tagen oder Wochen gedacht. Und, so merkte Nicklas-Faust gegenüber dem epd kritisch an: „Es wäre hilfreich, wenn nicht in Deutschland verschiedenste Verbände und Initiativen in der Vermittlung und Aufnahme von Flüchtlingen aktiv sind.“ Besser wäre es, koordiniert vorzugehen.
Das zeichnet sich nun ab. In einer bundesweiten Datenbank sammeln seit vergangener Woche Organisationen der Behindertenhilfe Wohn-, Assistenz- und Transferangebote für Menschen mit einer Behinderung, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Zu den Initiatoren der Website www.hilfsabfrage.de gehört das Büro des Bremer Landesbehindertenbeauftragten Arne Frankenstein. Er hoffe, dass sich möglichst viele Akteure der Behindertenhilfe beteiligten, „nicht nur in den Städten, auch in der Fläche“, sagte Frankenstein dem epd. „Organisationen in der Ukraine, in den Grenzregionen sowie in Deutschland können dann ein sogenanntes “matching„ zwischen den behinderten, geflüchteten Menschen und den Hilfsangeboten in Deutschland herstellen“, sagt BeB-Referent Markowski.
Unterdessen wächst die Liste der Einrichtungen, die Menschen mit Behinderung aufnehmen, täglich. Der BeB berichtet, dass die Rotenburger Werke in Niedersachsen eine Gruppe von 16 Menschen mit zum Teil komplexer Beeinträchtigung betreuen, die von zehn Fachkräften begleitet werden. Auch Bethel.regional in Nordrhein-Westfalen sei sehr aktiv. 120 Menschen mit Behinderung sollen aufgenommen werden. Der Träger Eben-Ezer in Lemgo habe 40 Plätze in der Behindertenhilfe eingerichtet. „Auch vom Christophoruswerk Erfurt habe ich gehört, dass eine ganz Schulklasse mit motorischen/kognitiven Beeinträchtigungen aus Sumi aufgenommen wurde.“
Das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands (CJD) hat am 24. März 37 schwerst- oder mehrfachbehinderte Kinder, Betreuerinnen und deren eigenen Kinder aufgenommen, die zuvor in Polen waren. Sie kommen im Gästehaus des CJD-Berufsbildungswerks in Koblenz unter. „Diese Kinder im Alter von sechs bis 18 Jahren gehören zu den Schwächsten der Schwachen. 17 von ihnen können nur liegend transportiert werden. Auch ihre gesundheitliche Situation ist teilweise sehr schwierig“, berichtete CJD-Vorstand Petra Densborn. „Wir können ihnen geschützte Räume geben und sie dabei unterstützen, die schrecklichen Erfahrungen zu verarbeiten. Zumal behinderte Kinder eine besonders intensive Traumabewältigung benötigen.“
Auch der Fachverband „Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie“ (CBP) hat bereits Evakuierungen organisiert. Er hat insgesamt bereits 200 Menschen mit Behinderung und ihre Betreuer aus der Ukraine aufgenommen, die auch in den nächsten Monaten begleitet würden. Für die zuletzt geholten 89 Betreuten, 14 Betreuerinnen und acht Angehörigen ging die Reise nach Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen.
Die Neuankömmlinge hätten zuvor in Kiew in altersgemischten, familiären Kleingruppen gelebt, vergleichbar mit den hiesigen SOS-Kinderdörfern. „Diese altvertrauten Strukturen sollen nach Möglichkeit beibehalten bleiben, denn in Zeiten des Chaos durch den Krieg geben sie den jungen Menschen den Halt, den sie zur Bewältigung der aktuellen Situation benötigen“, so Pressesprecher Thomas Schneider. Daher sei es wichtig, dass Mitgliedseinrichtungen gefunden werden konnten, die die gesamten Gruppen entgegen den hierzulande üblichen Strukturen bei sich aufnehmen. Und der Bedarf sei riesig: „Allein in Lwiw warten noch tausende Kinder und junge Erwachsenen mit geistiger Behinderung auf ihre Evakuierung.“