München, Nürnberg (epd). Michael Bammessel spricht aus leidiger Erfahrung: Der Pflegenotstand werde sich nicht erst in Zukunft zeigen, er sei längst da. „Pflege ist seit mehr als zehn Jahren ein Megathema. Aber den politischen Willen, das große Rad zu drehen, den kann ich einfach nicht erkennen“, so der scheidende Diakoniechef gegenüber dem epd. Eine Lösung sieht er in der viel stärkeren Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. Und in der Ausbildung der zu uns gekommenen Flüchtlinge. Die Fragenstellten Roland Gertz, Jutta Olschewski und Daniel Staffen-Quandt.
epd sozial: Herr Bammessel, zuletzt gab es ja einigen Wirbel um die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Zuerst schien die Diakonie dafür, dann wieder dagegen...
Michael Bammessel: Nein, das stimmt so nicht. Die ursprüngliche Idee der einrichtungsbezogenen Impfpflicht war ja, dass sie Teil eines Stufenplans ist und ihr zeitnah auch eine allgemeine Impfpflicht folgt. So hätten es viele in der Diakonie mitgetragen. Doch die allgemeine Impfpflicht ist ja in weite Ferne gerückt - und allein eine einrichtungsbezogene Impfpflicht hätte wieder eine Diskriminierung in den Einrichtungen zur Folge gehabt: Auf der einen Seite Besucher und Bewohner, die sich nicht impfen lassen müssen, auf der anderen Seite unser Personal, das sich impfen lassen müsste.
epd: Wir reden hier aber doch nur von einem sehr geringen Prozentsatz im Pflegebereich, der nach wie vor nicht gegen Corona geimpft ist, oder?
Bammessel: In unserer Bevölkerung - und damit auch bei Pflegekräften - gibt es eine beachtliche Zahl von Menschen, die bislang die Impfung nicht als das Mittel der Wahl im Kampf gegen die Corona-Pandemie anerkannt haben. In einer freien Gesellschaft muss ich das akzeptieren. Auch wenn ich es persönlich für ein Gebot der Verantwortung für andere halte, sich impfen zu lassen. Selbst in Einrichtungen mit hohen Impfquoten könnte der Ausstieg Ungeimpfter personelle Probleme auslösen. Wenn es in einem Pflegeheim 50 Angestellte gibt und 92 Prozent davon sind geimpft, könnten vier Mitarbeitende bei einem Arbeitsverbot für Impfverweigerer ausfallen. Die Grenze, ab wann der Versorgungsauftrag nicht mehr gewährleistet werden kann, ist schnell erreicht.
epd: Wie könnten die Personalprobleme im Pflegebereich aus ihrer Sicht gelöst werden?
Bammessel: Aus meiner Sicht wird es keine Lösung geben ohne eine noch wesentlich stärkere und in verantwortungsvoller Weise durchgeführte Anwerbung von Menschen aus dem Ausland. Natürlich nicht aus Ländern, die selbst einen Fachkräftemangel haben und natürlich nur mit entsprechenden Begleitmaßnahmen, was die Sprache und die Ausbildung angeht. Aber es gibt durchaus Länder auf dieser Erde, die haben junge Menschen, die zum Teil sogar gut ausgebildet sind, die auch bereit wären, nach Deutschland zu kommen. Und es gibt ja auch schon Menschen, die hier sind - deshalb kann ich absolut nicht begreifen, weshalb unsere Staatsregierung so handelt, wie sie handelt: Wir haben hier Geflüchtete, die inzwischen gut integriert sind, die im Pflegebereich arbeiten wollen, denen aber die Arbeit oder sogar Ausbildung verboten und die Abschiebung angedroht wird.
epd: Woran liegt es, dass es politisch beim Thema Pflege einfach nicht vorangeht - oder nur sehr, sehr langsam?
Bammessel: Da fragen Sie mich was! Pflege ist seit mehr als zehn Jahren ein Megathema. Aber den politischen Willen, das große Rad zu drehen, den kann ich einfach nicht erkennen. Im Bundestagswahlkampf war Pflege wieder mal nur ein Randthema. Da bräuchte es endlich eine „Neuaufstellung“. Dass der große Wurf möglich wäre, das hat man in den vergangenen Jahren und Tagen bei anderen Themen gesehen. In der Pandemie wurden Rettungspakete in aberwitzigen Höhen geschnürt. Seit Beginn des Ukraine-Krieges wurden viele zusätzliche Milliarden für die Verteidigung angekündigt. Und die Pflege?
epd: Braucht es in der Pflege also erst einen großen Knall wie den russischen Überfall auf die Ukraine, damit man die Notwendigkeit eines „großen Wurfs“ in dem Bereich erkennt?
Bammessel: Im Prinzip ist der große Knall schon längst da, nur kam er eben schleichend. Der Pflegenotstand ist keine Zukunft, er ist bereits Realität. Auch Diakonie-Einrichtungen müssen beispielsweise in der ambulanten Pflege mancherorts nicht nur neue Anträge ablehnen, sondern sogar bestehende Verträge mit Patientinnen und Patienten kündigen. In Unterfranken musste beispielsweise eine ganze Diakoniestation dauerhaft schließen, weil dort einfach keine Pflegekräfte mehr gefunden wurden. Dass der Ernst der Lage bislang gesellschaftlich und politisch nicht wirklich realisiert wird, das macht mich einigermaßen ratlos.
epd: Blicken wir auf die Schnittstelle Kirche/Diakonie: Wie wirkt sich die zunehmend kirchenkritische Haltung in der Gesellschaft auf die Arbeit der Diakonie aus?
Bammessel: Natürlich merken wir, dass die Zahl der Menschen, die bei der Diakonie arbeiten und arbeiten wollen, und die zugleich einen echten, gewachsenen, stabilen kirchlichen Bezug haben, weiter abnimmt. Das ist schon ein Problem. Ich kann bei der Diakonie zwar durchaus Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen anstellen, solange sie unsere christliche Grundausrichtung bejahen. Aber damit es eine kirchliche Diakonie bleibt, brauchen wir schon auch genügend Menschen, die persönlich für das kirchliche Profil der Diakonie bewusst einstehen.
epd: Was heißt das konkret? Der Pflegehelfer darf aus der Kirche austreten, die Pflegedienstleitung oder Kita-Leiterin hingegen nicht?
Bammessel: Solche Entscheidungen treffen die einzelnen Träger und Einrichtungen vor Ort - und dort ist es meiner Meinung nach auch richtig aufgehoben, weil nur dort der Einzelfall gesehen und beurteilt werden kann. Man hat in der Vergangenheit ja immer versucht, das relativ formal zu definieren, - bei welcher Stelle muss man Mitglied der evangelischen Kirche sein, wofür genügt auch eine Mitgliedschaft in einer anderen christlichen Kirche, bei welchen Jobs ist das gar nicht mehr relevant und so weiter. Es kann aber sein, dass etwa eine muslimische Pflegekraft sehr viel mehr Verständnis für die religiösen Bedürfnisse einer alten Dame hat als ein evangelisches Kirchenmitglied, dem der Glaube sehr fern ist.