Bremen (epd). Wenn Harald Schröder durch die Tischreihen in der Bremer Winterkirche geht, dann muss er Zeit mitbringen. „Harald, gut, dass ich Dich sehe“, „Harald, ich wollte Dir noch sagen“: Der Mann für die aufsuchende Seelsorge an Menschen, die in Armut leben, ist hier bekannt wie ein bunter Hund. Und die Gäste in der evangelischen Liebfrauenkirche tanken an diesem Ort nicht nur Wärme, sie haben auch Redebedarf. Schröder ist für sie da, hat für alle Sorgen ein offenes Ohr. Noch, bald geht er in den Ruhestand.
Obdachlosen-Seelsorger - davon gibt es nicht viele in Deutschland. Der 65-jährige Diakon Schröder begleitet nicht nur die Winterkirche, er ist auch auf der Straße unterwegs, und zwar auf Augenhöhe - wortwörtlich. Wenn er mit jemandem spricht, der gerade „Platte macht“, geht er stets in die Knie und erfährt dabei: „Wohnungslose und obdachlose Menschen brauchen nicht nur Hilfe, nicht nur die leibliche Versorgung, die zweifellos wichtig ist. Sie brauchen vor allem Gemeinschaft, die gerade in der Pandemie schwerer geworden ist.“
„Die Isolation hat zugenommen, viele lechzen nach einem Gespräch“, bringt es Schröder auf den Punkt. Er steht bedingungslos auf der Seite derjenigen, die keine eigene Wohnung haben, bei Freunden oder Bekannten unterkommen oder sogar obdachlos unter freiem Himmel schlafen. Menschen wie Schröder müsse es mehr geben, sagt beispielsweise Sascha Kühnhold, der viele Jahre auf der Straße gelebt hat.
„Viele Menschen auf der Straße haben eine enorme Sehnsucht nach Normalität“, hat Schröder erfahren. Und der Bedarf nach Seelsorge in dieser Situation steigt, nicht nur in der Hansestadt. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe leben etwa 45.000 Menschen im Laufe eines Jahres ohne jede Unterkunft auf der Straße, 256.000 sind wohnungslos. Die Zahl bezieht sich auf das Jahr 2020, zwei Jahre zuvor waren es noch 237.000 Menschen und damit etwa acht Prozent weniger.
Allein in Bremen wird die Zahl der obdachlosen Menschen auf mehr als 600 geschätzt. „Da sind immer mehr Jüngere, aber auch mehr Ältere“, hat Schröder beobachtet. Tag für Tag ist er auf der Straße unterwegs, um ihnen zur Seite zu stehen. Dabei hat er großen Respekt vor der Überlebensleistung von Menschen in extrem desolaten Verhältnissen entwickelt und weiß von den Nöten: Was tun, wenn es keine kostenlose öffentliche Toilette gibt? Keine Duschgelegenheit, keinen sicheren Ort für die Habseligkeiten? Kaum Trinkwasserbrunnen, keinen Briefkasten? Kein Bett für ein paar Nächte, wenn mit der Erkältung das Fieber steigt?
Viele Obdachlose sind krank, einige mit allem durch. „Nach dem Absturz und vielen vergeblichen Versuchen, wieder auf die Beine zu kommen, wird alles egal“, schildert Schröder die Situation, in der sie sich befinden. „Entweder kommt dann die Hilfe zu ihnen, oder sie gehen ohne Hilfe drauf.“
Wer in normalen Verhältnissen lebe, ahne oft nichts von diesen Schwierigkeiten, sagt Schröder, der auch deshalb in besonderen „Achtsamkeitswegen an Schmerzpunkte der Obdachlosigkeit“ Gruppen durch die Stadt führt. „Dann wird schnell klar, wie enorm schwer es ist, unter den Lebensbedingungen auf der Straße ein bürgerliches Aussehen aufrechtzuerhalten. Und weil du dich ständig um das Überleben kümmern musst, verlernst du die einfachsten Dinge. Nach einigen Jahren weißt du nicht mal, wie Kaffeekochen geht.“
Schröder besucht sie und wärmt ihnen die Seele. Und wenn er geht, dann immer mit der Frage. „Kann ich noch was für dich tun?“ Er sei „ein glaubwürdiger Pate der Menschen, die mit wenig auskommen müssen, ein Pate im Namen Gottes, ein Kämpfer der Armen“, beschreibt ihn Stephan Kreutz, Pastor an der Winterkirche. Ende Februar wird Schröder in den Ruhestand verabschiedet. Wie und ob seine Stelle wieder besetzt wird, ist noch nicht klar.